RUDOLF STEINER GES AMTAUSG ABE VORTRAGE VORTR AGE VOR MITGLIEDERN DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT RUDOLF STEINER Vor dem Tore der Theosophie Vierzehn Vortrage, gehalten in Stuttgart vom 22. August bis 4. September 1906 mit zwei Fragenbeantwortungen (Horernotizen) 1990 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Horernotizen herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung Die Herausgabe der 4. Auflage besorgte Ulla Trapp 1. Auflage (Zyklus 1) Berlin 1910 2. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1964 3. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1978 4. Auflage (verbesserte Textfassung nach neugefundenen Horernotizen) Gesamtausgabe Dornach 1990 Bibliographie-Nr. 95 Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz © 1990 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz Satz und Druck von Kooperative Diirnau, Diirnau Printed in Germany ISBN 3-7274-0952-5 2.u den Veroffentlichungen aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen- schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861-1925) geschriebenen und veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis 1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich wie auch fiir die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen Gesellschaft. Er selbst wollte urspriinglich, dafi seine durchwegs frei gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wurden, da sie als «mundliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und fehlerhafte Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich veranlafk, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenogra- phierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fiir die Her- ausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften selbst korrigieren konnte, raufi gegeniiber alien Vortragsveroffentlichun- gen sein Vorbehalt beriicksichtigt werden: «Es wird eben nur hinge- nommen werden miissen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.» Uber das Verhaltnis der Mitgliedervortrage, welche zunachst nur als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen 6f- fentlichen Schriften aulSert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiogra- phie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist am Schlufi dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt gleichermafien auch fiir die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissen- schaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten. Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemafi ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt- ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere Anga- ben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise. INHALT Erster Vortrag, Stuttgart, 22. August 1906 11 Das Wesen des Menschen. Theosophische Lehren friiher unci heute. Die sieben Glieder der menschlichen Wesenheit. Zweiter Vortrag, 23. August 1906 19 Die drei Welten: die physische, die astrale und die geistige Welt. Eigenschaf- ten der Astralwelt: Spiegelbildlichkeit, Riickwartsgehen der Zeitereignisse, Realitat von Gedanken und Gefuhlen. Die vier Gebiete der Devachan- Welt. Lesen in der Akasha-Chronik. Dritter Vortrag, 24. August 1906 29 Das Leben der Seele nach dem Tode. Der viergliedrige Mensch im Wach- und Schlafzustande. Die Trennung der Wesensglieder beim Tode. Das Erleben der Seele im Kamaloka. Erwahnte Beispiele: Hypnose, Selbst- mord, Vivisektion, Spiritismus. Vierter Vortrag, 25. August 1906 38 Das Devachan. Der Kausalkorper. Welche Zeit vergeht zwischen den ein- zelnen Inkarnationen des Menschen? Erlebnisse der Seele nach dem Tode in den vier Gebieten des Devachan. Die Lotusblumen (Chakrams). FOnfter Vortrag, 26. August 1906 47 Die Arbeit des Menschen in den hoheren Welten zwischen Tod und neuer Geburt. Vorbereitung einer neuen Inkarnation. Erwahnte Beispiele: Vorge- sicht auf das kommende Leben, Idiotie und Epilepsie, Astralleichnam und Doppelganger, Arbeit von Atherleib und Astralleib am Embryo. Sechster Vortrag, 27. August 1906 54 Die Erziehung des Kindes. Die Entwickelung der Wesensglieder in den ersten Jahrsiebenten des Menschen und daraus folgende Grundsatze fur die Erziehung. Vorbild, Autoritat, selbstandiges Urteil. Uber einige Wir- kungen des Karmagesetzes. Wodurch kommt Schicksal zustande? SlEBENTER VoRTRAG, 28. AugUSt 1906 64 Die Wirkungen des Karmagesetzes im menschlichen Leben. Ursachen und Wirkungen in den verschiedenen Wesensgliedern des Menschen. Karmi- sche Einzelfragen: Temperament, Infektionskrankheiten, Volksseuchen, Nervositat, Gefahr von Irrsinnsepidemien, Liebe zwischen Kind und Mutter. Achter Vortrag, 29. August 1906 73 Gut und Bose. Die Entstehung des Gewissens. Wie wirken sich bestimmte Eigenschaften der Wesensglieder in der folgenden Inkarnation aus? Die Manichaer. Die Mission des B6sen. Karmische Einzelfragen: Krankheiten, jungverstorbene und totgeborene Kinder, Ausgleich des Karmas zwischen zwei Menschen. Neunter Vortrag, 30. August 1906 83 Die Evolution der Erde. Planeten, Runden, Globen. Das Ratsel der Zahl 777. Entwickelung des Menschen im Zusammenhang mit den verschiede- nen planetarischen Zustanden der Erde. Namen der Wochentage. Zehnter Vortrag, 31. August 1906 92 Die Entwickelung des Menschen bis zur atlantischen Zeit. Anfangsstadium unseres Planeten. Das Herabsenken des Geistes. Die Genesis in der Bibel. Der lemurische und der atlantische Mensch. Elfter Vortrag, 1. September 1906 102 Die Kulturepochen der nachatlantischen Zeit. Die Sehnsucht des nachatlan- tischen Menschen nach dem Gottlichen. Die Unterrassen der Inder, Perser, Agypter, Griechen und Romer, Germanen und Angelsachsen. Wo gilt das ptolemaische und wo das kopernikanische Weltsystem? Zukunftsaufgaben der Menschheit. Zwolfter Vortrag, 2. September 1906 Ill Okkulte Entwickelung. Die verschiedenen Bewufitseinsstufen des Men- schen. Ausbildung der Lotusblumen (Chakrams). Die sechs Nebeniibun- gen. Der Lehrer (Guru) in der orientalischen, der christlichen und der rosenkreuzerischen Schulung. Dreizehnter Vortrag, 3. September 1906 123 Die orientalische und die christliche Schulung. Die acht Anweisungen des Gurus in der Yoga-Schulung. Christus als der grofie Lehrer in der christli- chen Schulung. Meditieren des Johannes-Evangeliums. Die sieben Statio- nen (Stufen) der christlichen Einweihung. Vierzehnter Vortrag, 4. September 1906 136 Die Rosenkreuzer-Schulung, der Weg fiir die Menschen, die in Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen geraten. Zwei Arten von Selbsterkenntnis. Die sieben Stufen der Rosenkreuzer-Schulung. Zusammenhang zwischen dem Menschen und der ganzen Erde. Uber das Erdinnere, Erdbeben und Vulkanausbriiche. Fragenbeantwortung (Notizen), 2. September 1906 150 Fragenbeantwortung (Notizen), 4. September 1906 157 Hinweise Zu dieser Ausgabe 165 Texthinweise 166 Schematische Ubersicht uber die Weltentwickelungsstufen (zum 9. Vortrag, 31. August 1906) 170 Namenregister 171 Rudolf Steiner iiber die Vortragsnachschriften 173 Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 175 ERSTER VORTRAG Stuttgart, 22. August 1906 Es soil in diesen Vortragen ein allgemeiner Uberblick iiber das Ge- samtgebiet der theosophischen Weltanschauung gegeben werden. Nicht immer ist Theosophie so wie heute gelehrt worden in Vortra- gen und Buchern, die jedem zuganglich sind. Friiher wurde Theoso- phie als etwas angesehen, das nur in kleinen intimen Zirkeln gelehrt werden konnte. Das Wissen beschrankte sich auf die Kreise von Ein- geweihten, auf okkulte Briiderschaften; die Allgemeinheit sollte nur die Fruchte dieses Wissens haben. Weder von ihrem Wissen und von ihren Taten noch von dem Ort ihres Wirkens war viel bekannt. Was die Welt an grofien geschichtlichen Menschen kennt, das waren eigentlich nicht die grofiten. Die Grofiten, die Eingeweihten, hielten sich zuriick. So trat im 18. Jahrhundert ein solcher Eingeweihter einmal in ei- nem Augenblick, der gar nicht beachtet wurde, vor einen Schriftstel- ler hin, wurde mit ihm fliichtig bekannt und sprach Worte, die der andere gar nicht besonders beachtete, die aber dennoch in ihm nach- wirkten und gewaltige Gedankenbilder erzeugten, deren schriftstel- lerische Fruchte heute in unzahligen Handen sind. Dieser andere war Jean-Jacques Rosseau. Er war kein Eingeweihter, aber die Quelle seines Wissens ging auf einen solchen zuriick. Ein anderes Beispiel: Jakob Bohme war als Schusterlehrling allein im Laden, in welchem er noch nichts verkaufen durfte. Da kam eine Personlichkeit zu ihm, die einen tiefen Eindruck auf ihn machte; sie sagte einige Worte und entfernte sich dann wieder. Gleich darauf horte er seinen Namen rufen: Jakob, Jakob, du bist jetzt noch klein, du wirst aber grofi werden. Merke dir, was du heute gesehen hast. - Es blieb eine geheime Anziehung zwischen ihm und jener Person- lichkeit, die ein grofier Eingeweihter war. Von ihm stammten die machtigen Inspirationen Bohmes. Es gab auch noch andere Mittel, durch die friiher ein Eingeweih- ter gewirkt hat. Jemand hat zum Beispiel einen Brief bekommen, der dazu bestimmt war, irgendeine Tat zu veranlassen. Er war viel- leicht Minister und hatte die aufiere Macht, irgend etwas auszufuh- ren, aber nicht den Gedanken dazu. In dem Briefe stand etwas, was gar nichts zu tun hatte mit dem, was ubermittelt werden sollte, viel- leicht ein Bittgesuch. Man hatte aber den Brief noch auf eine andere Art lesen konnen: Man brauchte nur immer vier Worte auszustrei- chen und das funfte stehen zu lassen, dann gab der Rest einen neuen Zusammenhang, den naturlich der Empfanger gar nicht bemerkte, der aber zum Inhalt hatte, was geschehen sollte. Waren nun die Worte die richtigen, so wirkten sie, auch ohne dafi der Leser den Sinn im Tagesbewufksein aufgenommen hatte. In ahnlicher Weise schrieb ein deutscher Gelehrter, der zugleich ein Eingeweihter war, der Lehrer von Agrippa von Nettesbeim, Trithem von Sponheim. In seinen Werken, mit dem richtigen Schlussel gelesen, steht vieles, was heute in der Theosophie gelehrt wird. Es war damals notwendig, daft nur einige wenige, die geniigend vorbereitet waren, in diese Dinge eingeweiht wurden. Wozu war dieses Geheimhalten notwendig? Gerade um dem Wissen die richti- ge Stellung zu verschaffen, konnte man es nur den geniigend Vorbe- reiteten geben; die anderen empfanden nur die Segnungen. Es war ja kein Wissen fur die Befriedigung der Neugierde oder der bloften Wiftbegierde. Dieses Wissen sollte in die Tat umgesetzt werden, es sollte arbeiten an den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtun- gen, es sollte die Welt praktisch gestalten. Und so gehen alle groften Fortschritte in der Menschheitsentwickelung zuriick auf die Impul- se von Okkultem. Deshalb wurden auch alle, die der theosophi- schen Lehren teilhaftig werden sollten, schweren Proben und Prii- fungen unterworfen, ob sie auch wurdig dafur seien, und dann wurden sie stufenweise eingeweiht, ganz langsam von unten nach oben gefuhrt. Von dieser Methode ist in letzter Zeit abgegangen worden; man lehrt jetzt die elementaren Lehren offentlich. Die Veroffentlichung war notwendig, weil die fruheren Mittel, die Fruchte einfliefien zu lassen in die Menschheit, versagen wurden. Zu diesen Mitteln gehor- ten auch die Religionen, und in alien Religionen ist diese Weisheit enthalten; heute aber spricht man von einem Gegensatz zwischen Wissen und Glauben. Wir haben heute notig, auf den Wegen des Wissens zu der hdheren Erkenntnis zu kommen. Die eigentlichste Ursache aber fur die Veroffentlichung ist die Erfindung der Buchdruckerkunst. Vorher wurden die theosophi- schen Lehren mundlich, von Person zu Person erteilt; kein Unreifer oder Unwiirdiger horte davon. Aber durch die Bucher hat das Wis- sen von den sinnlichen Dingen Verbreitung gefunden, und durch sie ist es popular geworden. Daher entstand auch der Zwiespalt zwi- schen Wissen und Glauben. Solche Ursachen aber machen es notwendig, daft aus dem groften Schatze des Geheimwissens aller Zeiten jetzt vieles veroffentlicht werden mufi. Fragen wie: Woher kommt der Mensch? Was ist sein Ziel? Was verbirgt die sichtbare Gestalt? Was geschieht nach dem Tode? - mufiten beantwortet werden, und zwar nicht durch Hypo- thesen und Theorien und Mutmafiungen, sondern durch die Tat- sachen. Das eigentliche Ratsel des Menschen zu enthullen, das war es, um was es sich bei aller Geheimwissenschaft handelte. Alles, was hier- iiber gesagt werden soil, wird gegeben von dem eigentlichen Stand- punkt des praktischen Okkultismus aus; nicht irgendeine Theorie soli es sein, die man im Praktischen nicht brauchen kann. Solche Theorien sind dadurch entstanden und in die theosophische Litera- tur eingedrungen, daft im Anfang die Leute, welche die Bucher schrieben, selbst nicht genau verstanden, was sie schrieben. Solches mag ja fur die Wifibegier recht nutzlich sein. Die Theosophie aber soli Leben werden. Wir wenden uns zuerst dem Wesen des Menschen zu. Wenn uns ein Mensch entgegentritt, so sehen wir zunachst mit unseren aufie- ren Sinnesorganen das, was wir in der theosophischen Sprache den physischen Leib nennen. Dieser physische Leib ist etwas, was der Mensch mit der gesamten Umwelt gemeinsam hat. Das ist das einzi- ge, was die aufiere Wissenschaft gelten lafit, und doch ist es nur ein kleiner Teil des Menschen. Wir mussen tiefer eindringen in das We- sen des Menschen, denn schon eine blofie Uberlegung lehrt, daft es mit diesem physischen Menschen eine ganz besondere Bewandtnis haben muft. Es gibt eben noch andere Dinge, die man sehen, beta- sten kann und so weiter; jeder Stein ist schon ein physischer Korper. Aber der Mensch kann sich bewegen, er kann fiihlen, denken, er wachst, er ernahrt sich, pflanzt sich fort. Das alles ist beim Stein nicht der Fall, wohl aber entsprechend bei der Pflanze und dem Tier. Mit alien Pflanzen hat der Mensch die Ernahrung, das Wachs- tum, die Fortpflanzung gemeinsam. Hatte er nur einen physischen Korper wie der Stein, so konnte er nicht wachsen, sich ernahren, sich fortpflanzen. Er mufi also etwas haben, was ihn fahig macht, die physischen Krafte und Stoffe so zu verwerten, dafi sie ihm Mittel werden, zu wachsen und so weiter. Das ist der Atherleib. So hat der Mensch seinen physischen Leib mit allem Minerali- schen gemeinsam, den Atherleib nur mit den Pflanzen und Tieren. Das ist zunachst durch eine blofie Uberlegung festgestellt. Nun ist aber noch eine andere Moglichkeit vorhanden, sich davon zu liber- zeugen, dafi es einen Atherleib gibt, Diese Fahigkeit hat nur der, der seine hoheren Sinne ausgebildet hat. Solche hoheren Sinne sind nicht anders aufzufassen, als eine hohere Ausbildung dessen, was in jedem Menschen schlummert. Es ist wie beim Blindgeborenen, der operiert wird; nur dafi nicht jeder Blindgeborene operiert werden kann, dafi die geistigen Sinne aber bei jedem Menschen entwickelt werden konnen, wenn er die notige Geduld hat und die entsprechende Vorbereitung durch- macht. Schon um dieses Prinzip des Lebens, von Wachstum, Fort- pflanzung und Ernahrung wahrzunehmen, gehort eine ganz be- stimmte hohere Wahrnehmung. An dem Beispiel des Hypnotisie- rens konnen wir uns klarmachen, was gemeint ist. Der Hypnotismus, der den Eingeweihten immer bekannt war, bedeutet einen anderen Bewufkseinszustand als der gewohnliche Schlaf. Ein Hypnotisierter ist im Rapport mit dem Hypnotiseur. Man kann nun unterscheiden zwischen positiver und negativer Sug- gestion, die beim Hypnotisierten auftreten. Die erstere lafit etwas wahrnehmen, was nicht vorhanden ist. Die negative Suggestion be- steht darin, daft die Aufmerksamkeit abgelenkt wird von dem, was vorhanden ist. Es ist das nur eine Steigerung eines anderen Zustan- des: Im gewohnlichen Leben konnen wir auch unsere Aufmerksam- keit von einem Dinge abwenden, so dafi wir es nicht sehen, trotz- dem unsere Augen geoffnet sind. Das passiert uns ja unwillkurlich taglich, wenn wir vertieft in etwas sind. Die Theosophie will nichts zu tun haben mit solchen Zustanden, bei denen der Bewulkseinszu- stand des Menschen abgestumpft ist und er sich in einem Dammer- zustand befindet. Der Mensch, der zu theosophischen Wahrheiten kommen will, mufi beim Untersuchen der hoheren Welten seiner Sinne ebenso machtig sein wie beim Untersuchen der alltaglichen Dinge. Die grofien Gefahren der Einweihung konnen nur dann iiber den Menschen kommen, wenn sein Bewuiksein herabgedampft wird. Wer den Atherleib aus eigener Anschauung kennenlernen will, der mufi imstande sein, bei voller Aufrechterhaltung des gewohnli- chen Bewufitseins sich selbst durch eigene Willensstarke den physi- schen Leib abzusuggerieren. Dann aber ist der Raum fur ihn trotz- dem nicht leer; vor sich hat er dann den Atherleib, der in einer rot- lich-blaulichen Lichtform, wie ein Schemen, aber glanzend, leuch- tend, etwas dunkler als junge Pfirsichbluten, erscheint. Diesen Atherleib konnen wir niemals sehen, wenn wir einen Kristall be- trachten, wohl aber bei der Pflanze und beim Tier, denn dieser Teil ist es ja, der die Ernahrung, das Wachstum und die Fortpflanzung bewirkt. Der Mensch aber hat nicht nur diese Fahigkeiten, er hat auch die Fahigkeit der Empfindung von Lust und Schmerz. Die hat die Pflan- ze nicht. Der Eingeweihte kann das durch eigene Erfahrung untersu- chen, weil er sich mit der Pflanze identifizieren kann. Das Tier je- doch hat diese Fahigkeit, denn es hat ein weiteres Glied mit dem Menschen gemeinsam: das ist der Astralleib. Er umfafit alles, was wir als Begierde, Leidenschaft und so weiter kennen. Das ist nun wieder durch eine Uberlegung klar, durch ein inneres Erlebnis. Fur den Eingeweihten aber kann es ein aufSeres Erlebnis werden. Dieses dritte Glied des Menschen schaut der Eingeweihte als eiformige Wolke, die sich in einer fortwahrenden inneren Bewegung befindet; es ist das eine Wolke, die den Korper umgibt, in der der physische Korper und der Atherleib darinstecken. Es ist so, dafi, wenn man physischen Leib und Atherleib absuggeriert, alles ausgefullt ist von einer feinen Lichtwolke mit innerer Beweglichkeit. In dieser Wolke, in dieser Aura sieht der Eingeweihte jede Begierde, jeden Trieb und so weiter als Farbe und Gestalt des Astralleibes; so sieht er zum Bei- spiel heftige Leidenschaft als blitzartige Strahlen aus dem Astralleib hervorschiefien. Die Tiere haben einen Astralleib, der je nach der Gattung ver- schiedene Grundfarben hat; der Astralleib des Lowen hat eine ande- re Grundfarbe als derjenige des Lammes. Und auch beim Menschen ist die Grundfarbe nicht stets die gleiche, und wenn man fur feinere Unterschiede einen Sinn hat, kann man beim Menschen das Tempe- rament, die Grundstimmungen in seiner Aura erkennen. Nervose Menschen haben eine getigerte, von Punkten durchsetzte Aura. Diese Punkte sind nicht ruhig, sondern leuchten immer auf und verschwinden wieder. So ist es immer, und deshalb kann man auch die Aura nicht malen. Aber der Mensch unterscheidet sich auch noch vom Tiere. Da kommen wir zu dem vierten Gliede der menschlichen Wesenheit. Dieses vierte Glied liegt ausgesprochen in einem Namen, der sich von alien iibrigen Namen unterscheidet: «Ich» kann ich nur zu mir selbst sagen. Es gibt in der ganzen Sprache keinen Namen, den nicht jeder andere auch zu dem gleichen Gegenstand sagen konnte. Nicht so das Ich; das kann der Mensch nur zu sich selber sagen. Das haben diejenigen, die eingeweiht waren, von jeher empfunden. Der hebrai- sche Eingeweihte nannte so den «unaussprechlichen Namen Gottes», des Gottes, der im Menschen wohnt, denn er ist nur in dieser Seele fur diese Seele auszusprechen. Er mufi aus der Seele hervortonen, sie mufi sich einen eigenen Namen geben; kein anderer kann ihr einen Namen geben. Daher die wunderbare Stimmung, die durch die Zu- horer ging, wenn der Name «Jahve» ausgesprochen wurde; denn Jahve oder Jehova bedeutet «Ich» oder «Ich bin». In dem Namen, den sich die Seele gibt, beginnt der Gott in der eigenen Seele zu sprechen. Diese Eigenschaft hat der Mensch vor dem Tiere voraus. Das Tier besitzt nicht die Fahigkeit, zu sich «Ich» zu sagen. Die Fahig- keit, sich selbst einen Namen zu geben, hat der Mensch allein. Man mufi sich einmal die ungeheure Bedeutung dieses Wortes vor die Seele riicken. Jean Paul erinnert sich in seiner Selbstbiographie, wie er als ganz kleiner Junge vor einer Scheune stand und ihm bewufit wurde, dafi er ein Ich sei. Er wufite, dafi er das Unsterbliche in sich erfahren hatte. Wiederum driickt sich dies fur den Seher in einer eigentumlichen Weise aus. Wenn er den Astralleib untersucht, ist alles in fortwah- render Bewegung bis auf einen einzigen kleinen Raum; der bleibt, wie eine etwas in die Lange gezogene eiformige blauliche Kugel, et- was hinter der Stirne, bei der Nasenwurzel. Sie findet sich nur beim Menschen. Bei dem Gebildeten ist sie nicht mehr so wahrnehmbar wie bei dem Ungebildeten; am deutlichsten ist sie bei den in der Kul- tur tiefstehenden Wilden. An dieser Stelle ist in Wahrheit nichts, ein leerer Raum. Wie die Mitte der Flamme, die leer ist, durch den Lichtkranz blau erscheint, so erscheint auch diese dunkle leere Stelle blau, weil das aurische Licht ringsherum strahlt. Das ist der aufiere Ausdruck fur das Ich. Diese vier Teile hat jeder Mensch. Aber es ist ein Unterschied zwischen einem Wilden und einem europaischen Kulturmenschen, zwischen diesem und einem Franz von Assisi oder einem Schiller. Die Veredelung der Sitten bildet auch edlere Farben in der Aura. Das Wachstum in der Unterscheidung von Gut und Bose zeigt sich auch in der verfeinerten Aura. Um kultiviert zu werden, hat das Ich gearbeitet am Astralleib und die Begierden veredelt. Je hoher ein Mensch in moralischer und intellektueller Kultur steht, desto mehr hat das Ich hineingearbeitet in den Astralleib. Der Seher kann sagen: Dies ist ein Entwickelter, dies ist ein Unentwickelter. Was der Mensch selbst in den Astralleib hineingearbeitet hat, das nennt man Manas; das ist der fiinfte Grundteil. So viel also der Mensch selbst in sich hineingearbeitet hat, so viel ist in ihm Manas; daher ist immer ein Teil seines Astralleibes Manas. Aber es ist dem Menschen nicht unmittelbar gegeben, auch auf seinen Atherleib einen Einflufi auszmiben. So wie man lernt, auf eine hohere mora- lische Stufe zu kommen, so kann man auch lernen, in seinen Ather- leib hineinzuarbeiten. Wer dies lernt, ist ein Schiiler, ein Chela. Da- durch wird der Mensch Herr iiber seinen Atherleib, und so viel er in diesen hineingearbeitet hat, so viel ist in ihm vorhanden von Budhi. Das ist der sechste Grundteil, der umgewandelte Atherleib. Einen solchen Chela konnen wir an etwas erkennen. Der ge- wohnliche Mensch ist nicht ahnlich seiner friiheren Verkorperung, weder in Gestalt noch Temperament; der Chela aber hat dieselben Gewohnheiten, dasselbe Temperament wie in der friiheren Verkor- perung. Er bleibt sich ahnlich. Er hat bewufit hineingearbeitet in den Leib, der Fortpflanzung und Wachstum tragt. Die hochste Gabe, die der Mensch auf dieser Erde erreichen kann, ist, da$ er in seinen physischen Leib hinunterarbeitet. Das ist das Allerschwerste. Auf den physischen Leib arbeiten heifit, seinen Atem beherrschen lernen, seinen Blutumlauf bearbeiten, die Ner- venarbeit verfolgen, auch den Denkprozefi regeln. Derjenige, der auf dieser Stufe steht, heilk in theosophischer Sprache ein Adept, und dieser hat dann das, was man Atma nennt, an sich ausgebildet. Das ist der siebente Grundteil. Jeder Mensch hat vier Teile ausgebildet, den funften teilweise, die anderen in der Anlage. Physischer Leib, Atherleib, Astralleib, Ich, Manas, Budhi, Atma, das sind die sieben Glieder der menschlichen Wesenheit. Durch sie hat der Mensch Anteil an den drei Welten: der physischen Welt, der astralischen Welt und der Devachan- oder Geisteswelt. ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 23. August 1906 Wenn man von den Erkenntnissen hoherer Daseinsgebiete spricht, von denen die Eingeweihten wissen, die aber dem gewohnlichen Menschen heute noch nicht zuganglich sind, dann wird gegeniiber diesem Besprechen iibersinnlicher Tatsachen oft ein naheliegender Einwand gemacht. Er heilk: Was erzahlt ihr, die ihr vorgebt, ein ho- heres Wissen zu besitzen, uns von hoheren Welten? Was hat das fur eine Bedeutung fur uns, die wir doch selbst nicht in ubersinnliche Welten hineinschauen konnen? Darauf erwidere ich mit den schonen Worten einer jungen Zeit- genossin, die durch ihr Schicksal in den weitesten Kreisen bekannt- geworden ist: Helen Keller. Sie wurde im zweiten Lebensjahre blind und taub. Im siebenten Jahre war dieses Menschenkind noch immer wie eine Art Tier. Da fand sich eine liebevolle Seele, eine geniale Lehrerin, und heute, im sechsundzwanzigsten Lebensjahre, gehort Helen Keller wohl zu den Gebildetsten ihres Volkes. Sie ist einge- drungen in die Wissenschaften und hat eine erstaunliche Belesen- heit; sie ist vertraut nicht nur mit den klassischen und modernen Dichtern, sondern sie kennt auch und studiert die Philosophen, wie Plato, Spinoza und so weiter. Und sie, der die Welt des Lichtes und der Tone verschlossen ist fur immer, hegt einen ergreifenden Lebensmut und innige Freude iiber die Schonheit und Herrlichkeit der Welt. Einige Satze aus ihrem Buch iiber «Optimismus» schrei- ben sich uns fest in die Seele. Sie sagt: Oh, es lagerte sich um mich herum durch Jahre Nacht und Finsternis, und es hat sich eine Seele gefunden, die mich gelehrt hat, und an Stelle von Nacht und Finsternis trat Friede und Hoffnung. - Eine andere Stelle: Ich habe mir durch Denken und Empfinden den Himmel erobert. - Eines nur konnte dieser Seele gegeben werden - nicht Gesicht oder Gehor, die Sinneswelt bleibt ihr verschlossen, nur durch Kunde anderer Menschen dringt sie zu ihr -, aber die erhabenen Gedanken der grofien Genien sind in ihre Seele geflossen, und durch die Kunde der Wissenden hat sie Anteil an einer Welt, die Sie alle kennen. Das ist die Situation dessen, der nur durch die Mitteilungen ande- rer von hoheren Welten hort und selbst nicht hineinschauen kann in diese hoheren Welten. Solch ein Vergleich lehrt die Bedeutsam- keit der Mitteilungen aus hoheren Welten, wenn man sie auch noch nicht selbst schauen kann. Aber noch etwas anderes steht vor unse- rer Seele. Helen Keller mufi sich sagen: Niemals werde ich die Welt selbst schauen. - Jeder Mensch aber kann sich sagen: Auch ich wer- de die hoheren Welten schauen, wenn meine Geistesaugen geoffnet werden. - Die geistigen Augen und Ohren der Seele sind fiir jeden operierbar, wenn er nur die notige Geduld und Ausdauer hat. Wie lange dauert es denn, bis ich einen Einblick gewinne? - so fragen wieder andere. Da hat der bedeutende Denker Subba Row ei- ne schone Antwort gegeben. Er sagt: Der eine erreicht es in siebzig Inkarnationen, der andere in sieben Inkarnationen, der eine in sieb- zig Jahren, der andere in sieben Jahren, ein anderer in sieben Mona- ten, in sieben Wochen, in sieben Tagen, in sieben Stunden. - Oder die hohere Erkenntnis kommt, wie die Bibel sagt, «wie ein Dieb in der Nacht». Jedes geistige Auge kann geoffnet werden, wenn der Mensch nur die notige Energie und Geduld hat. Darum kann jeder Freude und Hoffnung schopfen aus den Mitteilungen anderer, denn was wir horen uber die hoheren Welten, sind keine Theorien, ist nicht etwas, was ohne Beziehung zu unserem Leben steht. Es ist etwas, was uns zwei Dinge als Friichte bringt, die wir haben miissen im Leben, wenn wir es richtig ergreifen wollen: Kraft und Sicherheit. Und beides gewinnen wir im vollsten Umfange: Kraft aus den Impul- sen der hoheren Welten, Sicherheit, wenn wir das Woher und Wohin des Menschen wissen, wenn uns bewulk wird, dafi wir sichtbar ein Geschopf der unsichtbaren Welt sind. Aber nur der kennt recht die sichtbare Welt, der auch von den zwei anderen Welten wei£. Die drei Welten sind: 1. die physische Welt, der Schauplatz aller Menschen 2. die astralische oder seelische Welt 3. die devachanische oder geistige Welt. Diese drei Welten sind raumlich voneinander nicht getrennt. Es um- geben uns die Dinge der physischen Welt, die wir mit den aufteren Sinnesorganen wahrnehmen; aber in demselben Raume mit uns ist auch die astralische Welt. Ebenso wie in der physischen Welt leben wir auch zugleich in den beiden anderen Welten, in der astralischen und in der devachanischen Welt. Uberall, wo wir sind, sind auch die drei Welten. Wir sehen die hoheren Welten nur noch nicht, gleich dem Blinden, der die physische Welt nicht sieht. Aber wenn die Seelensinne dem Menschen geoffnet werden, dann tritt die neue Welt mit den neuen Eigenschaften und den neuen Wesenheiten fur ihn hervor. Bekommt er neue Sinne, bekommt er auch neue Dinge. Wenn wir nun zu einer naheren Betrachtung dieser drei Welten schreiten, so konnen wir sagen: Die physische Welt ist nicht beson- ders zu charakterisieren. Jeder kennt sie, und jeder lernt die phy- sischen Gesetze, die darin gelten, kennen. Die Astralwelt lernt er kennen nach dem Tode, oder er lebt jetzt darin als Eingeweihter. Der Schiiler, dessen Sinne fur die Astralwelt geoffnet werden, ist zunachst in einer Verwirrung, denn was dort auftaucht, ist mit nichts in der physischen Welt recht zu verglei- chen. Man mufi viele Dinge ganz neu lernen. Die Astralwelt charak- terisiert sich durch eine Reihe von Eigenschaften. Eine verwirrende Eigenschaft ist vor allem fur den Schiiler, daft ihm alle Dinge ver- kehrt, sozusagen im Spiegelbilde erscheinen, so daft er sich gewoh- nen mu£, sie ganz anders anzusehen. Er mu!5 zum Beispiel lernen, Zahlen von riickwarts nach vorwarts zu lesen. Wir sind gewohnt, ei- ne Zahl so zu lesen, daft, wenn dasteht 3, 4, 5, wir 345 lesen; in der Astralwelt mussen wir umgekehrt, 543 lesen. Alles kehrt sich zum Spiegelbild um. Das ist sehr wichtig zu wissen. Das trifft auch fur hohere Dinge, zum Beispiel moralische Dinge zu, auch solche er- scheinen im Spiegelbild. Das begreifen die Leute zunachst nicht recht. Viele Menschen heutzutage klagen, daft sie sich umgeben se- hen von bosartigen schwarzen Gestalten, die sie bedrohen und beang- stigen und dergleichen. Das ist eine Erscheinung, die heute schon sehr viele Menschen befallt und uber die die meisten gar nicht Be- scheid wissen. In vielen Fallen verhalt es sich nun so: Es sind das die eigenen Triebe, Begierden und Leidenschaften, die im Menschen le- ben, und zwar in dem, was wir den Astralkorper nennen. Der ge- wohnliche Mensch sieht ja nicht seine eigenen Leidenschaften, aber durch besondere Vorgange in der Seele und im Gehirn kann der Fall eintreten, daft sie ihm sichtbar werden; nur erscheinen sie ihm dann wie im Spiegelbild. Wie einer, der in den Spiegel schaut und rund um sich die Gegenstande sieht, so erblickt er rund um sich die Spie- gelbilder seiner eigenen Triebe und so weiter. Alles, was aus ihm herausstromt, sieht er dann auf sich einstromen. Eine andere Er- scheinung ist, daft die Zeit und die Ereignisse nach riickwarts ge- hen. Zum Beispiel sehen wir im Physischen zuerst die Henne und dann das Ei. Im Astralischen sieht man umgekehrt erst das Ei und dann die Henne, welche das Ei gelegt hat. Im Astralen bewegt sich die Zeit zuriick; erst sieht man die Wirkung und dann die Ursache. Daher der prophetische Blick; niemand konnte kunftige Ereignisse voraussehen ohne dieses Ruckwartsgehen von Zeitereignissen. Es ist nicht wertlos, diese Eigentiimlichkeiten der Astralwelt kennenzulernen. Viele Mythen und Sagen aller Volker haben sich mit wunderbarer Weisheit damit beschaftigt, zum Beispiel die Sage vom Herkules auf dem Scheidewege. Es wird gesagt, daft er sich einst hingestellt fuhlte vor zwei weibliche Gestalten, die eine schon und verlockend; sie versprach ihm Lust, Gliick und Seligkeit, die zweite einfach und ernst, von Miihsal, schwerer Arbeit und Entsa- gung sprechend. Die beiden Gestalten sind das Laster und die Tu- gend. Diese Sage sagt uns richtig, wie im Astralen des Herkules eige- ne zwei Naturen vor ihn treten, die eine, die ihn zum Bosen, die an- dere Natur, die ihn zum Guten drangt. Und diese erscheinen im Spiegelbilde als zwei Frauengestalten mit entgegengesetzten Eigen- schaften: das Laster schon, iippig, bestrickend, die Tugend haftlich und abstoftend. Ein jedes Bild erscheint im Astralen umgekehrt. Die Gelehrten schreiben solche Sagen dem Volksgeist zu. Dies ist nicht wahr. Auch nicht zufallig sind diese Sagen entstanden. Die groften Eingeweihten haben sie nach ihrer Weisheit geformt und den Menschen mitgeteilt. Alle Sagen, Mythen, alle Religionen, alle Volksdichtungen dienen zur Losung der Weltratsel und beruhen auf Eingebungen der Eingeweihten. Die Erkenntnisse der hoheren Welten bringen uns Impulse und Krafte zum Leben, und durch sie wird eine Begriindung der Moral erlangt. Schopenhauer sagt: «Moral predigen ist leicht, Moral begriin- den schwer.» Ohne eine wirkliche Begriindung jedoch wird man sich die Moral nie wirklich zu eigen machen. Viele Menschen sagen: Was sollen uns die Erkenntnisse hoherer Welten, wenn wir nur gute Menschen werden und moralische Prin- zipien haben! - Aber auf die Dauer werden keine Moralpredigten ei- ne Wirkung haben, wohl aber wird die Erkenntnis der Wahrheit die richtige Moral begriinden. Der Moralprediger gleicht dem Men- schen, der dem Ofen seine Pflichten vom Heizen und Warmen vor- predigt, ihm aber keine Kohlen gibt. Will man Moral begriinden, mufi man der Seele «Heizmaterial» geben, und das geschieht nur durch die Erkenntnis der Wahrheit. Es gibt einen Satz im Okkultismus, der jetzt bekannt werden kann: Jede Luge ist in der Astralwelt ein Mord! - Das ist ein sehr be- deutungsvoller Satz, dessen Wichtigkeit nur der einsieht, der Er- kenntnis der hoheren Welten hat. Wie leichthin sprechen die Men- schen: Ach, das ist ja nur ein Gedanke, ein Gefiihl, das bleibt in der Seele; eine Ohrfeige darf ich nicht geben, aber ein schlechter Gedan- ke, der schadet nichts. - Es gibt kein unwahreres Sprichwort als: Ge- danken sind zollfrei, - denn jeder Gedanke, jedes Gefiihl ist eine Wirklichkeit, und wenn ich denke, einer sei ein schlechter Mensch oder ich Hebe ihn nicht, so ist das fur den, der in die Astralwelt hin- einschauen kann, wie ein Pfeil, wie ein Blitz, der sich wie eine Flin- tenkugel gegen den Astralleib des anderen bewegt und ihn schadigt. Jedes Gefiihl, jeder Gedanke ist eine Wesenheit, eine Form in der Astralwelt, und fur den, der Einblick hat in diese Welt, ist es oft viel schlimmer, mit anzusehen, wenn einer einen schlechten Gedanken iiber seinen Mitmenschen hat, als wenn er ihn physisch schadigt. Macht man diese Wahrheit bekannt, so heifk das Moral begriinden, nicht predigen. Sagt man iiber einen Menschen die Wahrheit, so bil- det sich eine Gedankenform, die der Seher nach Form und Farbe er- kennen kann und die das Leben des Nachsten verstarkt. Der Gedan- ke, der eine Wahrheit enthalt, geht auf die Wesenheit hin, auf die er sich bezieht, und fordert und belebt sie. Wenn ich also eine Wahr- heit denke iiber meinen Mitmenschen, so starke ich sein Leben; sage ich eine Luge iiber ihn, so strome ich eine feindliche Kraft auf ihn, die zerstorend, ja to tend wirkt. Daher ist jede Luge ein Mord. Jede Wahrheit bildet ein lebenforderndes Element, jede Liige ein leben- hemmendes Element. Wer das weiE, der wird sich mehr in acht nehmen in bezug auf Wahrheit und Liige als jener, dem man nur predigt, man solle nur immer hiibsch die Wahrheit sagen. Die Astralwelt ist in der Hauptsache aus Formen und Farben zu- sammengesetzt. Solche gibt es auch in der physischen Welt; wir sind aber gewohnt, auf dem physischen Plan die Farben immer mit ei- nem Gegenstand verbunden zu sehen. In der astralen Welt schwebt diese Farbe wie ein Flammenbild frei in der Luft. Es gibt eine Er- scheinung der physischen Welt, die an diese schwebenden Farben erinnert, das ist der Regenbogen. Aber die astralischen Farbenbilder sind frei im Raum beweglich, sie vibrieren wie eine Flut von Farben, ein Farbenmeer in immer wechselnden, verschiedenartigen Linien und Formen. Allmahlich aber kommt der Schiiler dazu, eine gewisse Ahnlich- keit zwischen der physischen und astralen Welt zu erkennen. Zuerst erscheint ihm diese Glut, dieses Farbenmeer sozusagen als herrenlos, es haftet nicht an Gegenstanden. Dann aber treten die Farben- flocken zusammen und heften sich, zwar nicht an Gegenstande, aber an Wesenheiten. Wahrend vorher nur eine schwebende Form gesehen wurde, offenbaren sich jetzt durch diese Farben geistige Wesenheiten, die man Gotter, Devas, nennt. Es sprechen sich darin geistige Wesenheiten aus. Eine Welt von Wesenheiten, die durch Farben zu uns spricht, ist die Astralwelt. Die Astralwelt ist die Welt der Farben; hoher noch steht die de- vachanische, die geistige Welt. Wenn der Schiiler die geistige Welt kennenlernt, bemerkt er das an einem ganz bestimmten Vorgang; er lernt verstehen ein tiefes Wort indischer Weisheit, Tat tvam asi, das heifk: Das bist du! - Dariiber ist viel geschrieben worden. Die wahre Bedeutung lernt der Schiiler erst kennen, wenn er von der astralischen in die Devachanwelt eintritt. Da sieht er in einem Moment seine physische Gestalt aufierhalb seiner selbst und sagt: Das bist du. - Wahrend er friiher zu sich gesprochen hat: Das bin ich, - sieht er jetzt seine physische Gestalt aufierhalb seiner selbst und sagt: Das bist du. - In diesem Moment ist der Mensch in der Devachanwelt. Da tritt fur ihn zu der Welt der Farben klar und deutlich noch eine andere Welt hinzu: die Welt der Tone, die in einem gewissen Sinne schon da war, aber nicht diese Bedeutung hatte. Die Devachanwelt ist die tonende Welt. Dieses Tonen bezeichnete Pythagoras als Spha- renmusik. Tonend hort man die Weltenkorper ihre Bahnen ziehen. Man vernimmt die Weltenharmonie, alles lebt in Tonen. Goethe lafit als Eingeweihter die Sonne tonen, er zeigt das Geheimnis des Deva- chan. Als Faust im Himmel, in der geistigen Welt ist, umgeben von Devas, da tont die Sonne, da tonen die Spharen: Die Sonne tont nach alter Weise In Bruderspharen Wettgesang, Und ihre vorgeschriebne Reise Vollendet sie mit Donnergang. Er meint den Geist der Sonne, der wirklich tont, wenn man in der Devachanwelt weilt. Daft Goethe dies meint, konnen wir daraus er- sehen, daft er bei dem Bilde bleibt. Im zweiten Teil von «Faust», als Faust wieder in diese Welt entruckt wird, heifit es: Tonend wird fur Geistesohren Schon der neue Tag geboren. Felsentore knarren rasselnd, Phobus' Rader rollen prasselnd, Welch Getose bringt das Licht! Es drommetet, es posaunet, Auge blinzt und Ohr erstaunet, Unerhdrtes hort sich nicht. Man hort die devachanische und sieht die astralische Welt. Beim Eintritt in die devachanische Welt bleibt fur den Schiiler die Astral- welt voll bestehen, sie verandert sich aber fur ihn. Wenn man zuerst die Devachanwelt betritt, bietet sie einem einen merkwiirdigen An- blick: Man sieht in der Devachanwelt jedes Ding im Negativ, wie auf der photographischen Platte. Wo ein physischer Gegenstand ist, sieht man nichts; was physisch hell ist, ist dort schwarz, und umge- kehrt. Man sieht alles in den Komplementarfarben: statt Blau Gelb, statt Rot Griin. In der ersten Region des Devachan sind die Urbil- der der physischen Welt, insofern diese nicht mit Leben begabt ist, also die Urbilder der Mineralien und ferner die der Pflanzen, Tiere und Menschen, insofern es sich um ihre physischen Formen han- delt. Es ist die Region, die das Grundgeriiste des Geisterlandes bil- det. Es kann verglichen werden mit dem festen Land unserer physi- schen Erde; daher heifit sie die «Kontinentalmasse» des Devachan. Ein Mensch, der vor einem Eingeweihten steht, erscheint dort, wo er physisch den Raum ausfullt, dunkel, aber ringsherum von einer Strahlenhulle umgeben. Wenn die Sinne feiner werden, treten die Urbilder des Lebens hinzu, und alles, was Leben ist, flutet wie das Wasser auf der Erde dahin. Hier kann man ein Mineral nicht sehen, weil es kein pulsie- rendes Leben hat, wohl aber die Pflanze, das Tier und den Men- schen. Wie das Blut im Korper, so flielk alles Leben im Devachan. Man nennt diese zweite Abteilung die «Meere» des Devachan. In der dritten Abteilung, dem «Luftkreis», flutet alles dahin, was an Gefiihlen und Empfindungen, an Lust und Schmerz im Phy- sischen lebt. Die physischen Gebilde sind gleichsam die feste kontinentale Grundlage im Devachan. Alles, was Leben in sich hat, ist Meer. Al- les, was Lust und Leid bedeutet, ist in dem Luftkreis des Devachan enthalten. Der Inhalt all dessen, was auf Erden gelitten und genossen wird, stellt sich hier dar, also alles Tierische und Menschliche. Eine Schlacht zum Beispiel erscheint dem Eingeweihten auf dem De- vachanplan wie feurige, zuckende Blitze, wie gewaltiger Donner, man konnte sagen, wie ein heftiges Gewitter. Aber es sind nicht die physischen Wirkungen der Schlacht, sondern die Leidenschaf- ten der feindlichen Heere, die sich da gegeniiberstehen und die dem Eingeweihten wie schwere Wolken mit Donner und Blitz erscheinen. Die vierte Abteilung des Devachan geht hinaus iiber all das, was auch ohne den Menschen schon vorhanden ware. Sie enthalt alles das, was an originellen Gedanken im Menschen lebt, durch die er Neues in die Welt bringt und auf die Welt wirkt, gleichgiiltig, ob es die Gedanken eines Gelehrten oder Ungelehrten, eines Dichters oder eines Bauern sind. Es brauchen also keine grofien Erfindungen zu sein, diese Gedanken konnen auch dem Alltag angehoren. Nach diesen vier Partien steht man an der Grenze der geistigen Welt. Wie uns nachts der Himmel wie eine Hohlkugel, umgrenzt von einem Sternenkranz, erscheint, so ist es mit dieser Grenze des Devachan. Aber das ist eine bedeutungsvolle Grenze, sie heilk «Aka- sha-Chronik». Alles, was der Mensch je getan und gewirkt hat, wenn es auch nicht von Geschichtsbuchern gemeldet wird, es bleibt in jenem unverganglichen Geschichtsbuch an der Grenze des Deva- chan, das man die Akasha-Chronik nennt, eingeschrieben. Alles, was je von bewulken Wesen in der Welt bewirkt wurde, ist dort zu erfahren. Will der Seher zum Beispiel etwas wissen iiber Casar, dann nimmt er irgendeine Kleinigkeit aus der Geschichte als Anhalt, um einen festen Punkt zu haben, auf den er sich konzentrieren kann. Das tut er geistig; dann zeigen sich um ihn herum Bilder von all dem, was Casar tat, was um ihn herum geschehen ist, wie er seine Legionen gelenkt, seine Schlachten geschlagen, seine Siege erfochten hat. Aber in merkwiirdiger Weise tritt das auf; der Seher sieht nicht nur eine abstrakte Schrift, sondern wie in Schattenrissen, in Bildern zieht alles voriiber. Es spielt sich nicht das ab, was sich im Raume zugetragen hat, sondern etwas ganz anderes. Wenn Casar zum Bei- spiel seine Siege erfochten hat, hat er gedacht; alles, was um ihn her- um vorging, lebte auch in seinen Gedanken, jede Armbewegung lebt ja auch in den Gedanken. Die Absichten, also das, was Casar sich vorgestellt und gedacht hat, als er seine Legionen lenkte, und auch deren Vorstellungen, das zeigt die Akasha-Chronik. Sie ist ein treues Abbild alles dessen, was vorgegangen ist; was bewulke Wesen uber- haupt erlebt haben, das wird da verzeichnet. Der Eingeweihte kann so die ganze menschliche Vergangenheit ablesen. Aber er mul? es erst lernen. Diese Akasha-Bilder fuhren eine verwirrende Sprache, weil Akasha etwas Lebendiges ist. Aber man darf das Akasha-Bild Casars nicht verwechseln mit der Individualitat Casars. Die kann schon wieder verkorpert sein. Das Verwechseln passiert namentlich dann leicht, wenn man durch aufiere Mittel Zugang gewinnt zu den Akasha-Bildern. So spielen sie oft eine Rolle in spiritistischen Sit- zungen. Der Spiritist glaubt einen verstorbenen Menschen zu sehen, es ist aber nur dessen Akasha-Bild. Ein Akasha-Bild von Goethe zum Beispiel kann auftreten, wie er im Jahre 1796 gewirkt hat; der Unkundige verwechselt es mit der Individualitat Goethes. Das ist um so verwirrender, als dieses Bild lebt, auf Fragen Antwort gibt, und zwar nicht nur solche, die schon damals gegeben wurden, son- dern ganz neue, die nicht ausgesprochen wurden. Es sind nicht Wie- derholungen, sondern Antworten, so wie sie Goethe damals gege- ben haben konnte. Es ist durchaus moglich, dafi dieses Akasha-Bild Goethes sogar ein Gedicht macht im Stil und Sinn des damaligen Goethe. Die Akasha-Bilder sind eben richtig lebendige Gebilde. So wunderbar sind diese Tatsachen, aber es sind Tatsachen. DRITTER VORTRAG Stuttgart, 24. August 1906 Wie ist der Aufenthalt des Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt? Der Tod wird nicht mit Unrecht der alter e B ruder des Schlafes genannt, denn zwischen Schlaf und Tod besteht eine gewisse Ver- wandtschaft. Aber ebenso besteht wieder ein grofier, gewaltiger Unterschied zwischen beiden. Betrachten wir einmal, was mit dem Menschen vorgeht vom Mo- ment des Einschlafens bis zum Moment des Erwachens. Diese Zeit stellt sich dar als eine Art Bewufttlosigkeitszustand. Nur sparliche, manchmal verworrene, manchmal klarere Erinnerungen an ein Traumbewufitsein tauchen auf. Um den Schlaf recht zu verstehen, miissen wir uns erinnern an die einzelnen Teile der menschlichen Wesenheit. Wir sahen, dalS der Mensch aus sieben Gliedern besteht, von denen vier ganz entwickelt sind, das fiinfte nur zum Teil, und dalS vom sechsten und siebenten nur Keime und Anlagen vorhanden sind: 1 . der physische Leib, den wir mit unseren Sinnen wahrnehmen 2. der Atherleib, der fein leuchtend, durchlassig den ersten durchdringt 3. der Astralleib 4. der Ich-Leib oder Bewufitseinsleib. In dem Ich-Leib ist enthalten: 5. das Geistselbst oder Manas, zum Teil entwickelt, zum Teil keimhaft 6. der Lebensgeist oder Budhi 7. der Geistesmensch oder Atma, die beiden letzteren aber nur im Keime. Ein wacher Mensch hat die vier untersten Leiber in dem Raume, den er einnimmt. Der Atherleib ragt an alien Seiten ein wenig aus dem physischen Leibe heraus. Der Astralleib ragt etwa zweieinhalb Kopflangen iiber den physischen Leib heraus, umgibt ihn wie eine Wolke und verliert sich nach unten hin. Wenn ein Mensch ein- schlaft, dann bleibt im Bette liegen der physische Leib und der Atherleib; sie bleiben miteinander so verbunden wie am Tage. Dage- gen tritt eine Lockerung ein fur den Astralkorper; es findet gleich- sam ein Herausheben des Astralleibes und des Ich-Leibes aus dem physischen Leibe statt. Da nun alle Empfindungen, Vorstellungen und so weiter im Astralkorper bewirkt werden, dieser aber jetzt au- fterhalb des physischen Leibes ist, deshalb ist der Mensch im Schlafe bewulklos; denn in diesem Leben braucht der Mensch, um bewufk zu werden, das physische Gehirn als Instrument. Ohne dieses kann der Mensch sich nicht bewufk werden. Was macht nun der losgeloste Astralkorper wahrend der Nacht? Der Hellseher kann beobachten, wie sich der Astralleib in der Nacht am Schlafer beschaftigt; er hat seine bestimmte Aufgabe. Nicht schwebt er, wie es oft von Theosophen gelehrt wird, tatenlos, trage, als ein untatiges Gebilde iiber dem Menschen, sondern er ist fortwahrend am physischen Leibe tatig. Und was tut er? Der physi- sche Leib wird wahrend des Tages ermiidet, abgenutzt, und diese Abniitzung, die Ermiidung, macht der Astralleib wahrend der Nacht wieder gut. Der Astralleib bessert den physischen Leib nachts wieder aus und ersetzt die verbrauchten Krafte. Daher die Notwen- digkeit des Schlafes und daher auch das Erquickende, Erfrischende und Heilende des Schlafes. Wie es sich mit den Traumen verhalt, davon werden wir spater noch sprechen. Wenn nun der Mensch stirbt, ist es anders. Dann trennen sich nicht bloft der Astralleib und der Ich-Leib von dem physischen Kor- per, sondern auch der Atherleib. Diese drei Korper heben sich her- aus und bleiben nach dem Tode des physischen Korpers noch eine Zeitlang zusammen. Die Erscheinung des Todes geht so vor sich, daft sich im Moment des Todes der Zusammenhang, der zwischen dem Ather- und Astralleib einerseits und dem physischen Leib an- derseits besteht, namentlich im Herzen lost. Eine Art Aufleuchten find et statt im Herzen, und dann hebt sich iiber den Kopf heraus Atherleib, Astralleib und Ich. Im Augenblick des Todes tritt aber fur den Menschen etwas Merkwiirdiges ein: Fur eine kurze Spanne Zeit erinnert sich der Mensch aller seiner Erlebnisse im eben ver- flossenen Leben. Wie ein grofies Tableau steht in einem einzigen Augenblick sein ganzes Leben vor seiner Seele. Etwas ahnliches geschieht bei Lebzeiten dem Menschen nur in sehr seltenen Fallen, und zwar dann, wenn er in Todesgefahr schwebt oder einen grofien Schreck bekommt; zum Beispiel ein Ertrinkender, ein Absturzender sieht im Moment der Todesnahe sein Leben vor seiner Seele stehen. Eine andere ahnliche Erscheinung ist das eigentumliche, prik- kelnde Gefiihl, wenn ein Glied eingeschlafen ist. Woher kommt das? Das kommt durch eine Lockerung des Atherleibes. Wenn ein Glied, zum Beispiel ein Finger, einschlaft, dann sieht der Hellseher neben dem Finger einen Fingerling herausragen; das ist der Ather- leib, der sich an dieser Stelle gelockert hat und herausragt. Darin liegt auch die grofie Gefahr des Hypnotisierens, weil hierbei das Ge- hirn demselben Vorgang unterliegt wie der eingeschlafene Finger. Auf beiden Seiten des Kopfes sieht der Hellseher, wie zwei Lappen oder Sacke, den gelockerten Atherleib heraushangen. Wird nun das Hypnotisieren haufig wiederholt, so entsteht die Neigung des Atherleibes, sich zu lockern, die grofie Gefahren mit sich bringen kann. Die Betreffenden werden meist unfrei, traumerisch, haben Schwindelanfalle und so weiter. Eine solche Lockerung des ganzen Atherkorpers findet statt in der Todesgefahr. Das hangt so zusam- men: Der Atherkorper ist der Trager des Gedachtnisses; je feiner der Atherkorper, desto ausgebildeter, desto besser ist das Gedachtnis. Steckt nun der Atherkorper in dem physischen Korper fest, wie dies beim gewohnlichen Menschen der Fall ist, dann konnen seine Vi- brationen nicht geniigend auf das Gehirn wirken und dem Men- schen zum Bewufksein kommen, weil der physische Leib mit seinen groberen Schwingungen sie gleichsam zudeckt. In Todesgefahr aber, wo sich der Atherleib lockert, ist er mit seinen Erinnerungen vom Gehirn entlastet. Das ganze verflossene Leben steht einen Augen- blick vor der Seele des Sterbenden. Im Moment also, wo der Ather- leib sich lockert, tritt alles hervor, was jemals in den Atherleib hin- eingeschrieben worden ist. Daher auch die Erinnerung an das ver- flossene Leben unmittelbar nach dem Tode. Es dauert dann einige Zeit, bis sich der Atherleib vom Astralleib und Ich trennt. Beim gewohnlichen Menschen lost sich der Atherleib nach und nach im Weltenather auf. Beim ungebildeten, noch tiefstehenden Menschen geht diese Auflosung des Atherleibes langsam vor sich, beim Gebildeten rasch, beim Chela oder Schuler wieder langsam und immer langsamer, je hoher der Mensch steigt, und endlich kommt ein Stadium in der Entwickelung, wo er sich uberhaupt nicht mehr auflost. Nun haben wir beim gewohnlichen Menschen schon zwei Leich- name, den des physischen Korpers und den des Atherleibes; es bleiben iibrig Astralleib und Ich. Wir miissen uns nun vergegenwartigen, da$ das ganze Bewufit- sein des Menschen im irdischen Leben von seinen Sinnen abhangt. Wir werden uns eine Vorstellung machen konnen, wie anders der Bewulkseinszustand jetzt sein mui Denken wir uns nach und nach alle Sinne dahinschwinden: Finsternis tritt ein nach Verlust der Au- gen, Tonlosigkeit nach Verlust der Ohren, weder Kalte noch Warme gibt es nach Verlust des entsprechenden Sinnes. Was bleibt nun von dem, was die Seele belebt, was das Tagesbewufksein erfiillt, was wir dem Korper verdanken von fruh bis spat, nun, wo alle physischen Organe fehlen? Der seelische Inhalt; und gerade, wenn wir uns das klarmachen, werden wir begreifen, wie der Lebenszustand ist nach dem Tode, wenn der Mensch diese beiden Leichname abgelegt hat. Man nennt diesen Zustand Kamaloka, das heilk Begierdenort. Aber das ist kein Ort irgendwo draufien, nein, wo wir sind, ist auch Kamaloka, und fortwahrend umschweben uns und leben um uns die Geister der Verstorbenen. Aber dem physischen Menschen entgeht deren Anwesenheit. Wie empfindet nun ein Toter? Ein einfacher Fall wird uns das klarmachen: Ein Mensch ilk mit Begierde und wirklichem GenufL Der Hellseher sieht bei ihm im oberen Teil sei- nes Astralleibes die Befriedigung des Genusses als eine braunlich- rote Gedankenform. Nun stirbt dieser Mensch; was ihm erhalten bleibt, ist die Begierde und Genuftfahigkeit. An dem Physischen haf- tet nur das Physische, das Material des Genusses; wir mussen einen Gaumen und so weiter haben, urn essen zu konnen. Der GenuE und die Begierde aber sind etwas Seelisches; daher bleiben Genuftfahig- keit und Begierde auch nach dem Tode. Nur hat der Mensch dann keine Moglichkeit mehr, die Begierde zu befriedigen, denn die Orga- ne zur Befriedigung fehlen. So ist es mit alien Gemissen und Wiin- schen: Es hat einer Begierde nach schonen Farbenzusammenstellun- gen - es fehlen die Augen; nach harmonischer Musik - es fehlen die Ohren. Wie kommt das der Seele nach dem Tode zum Bewufksein? Wie ein Wiisten wanderer, von brennendem Durst gepeinigt, umherirrt und eine Quelle sucht, um den Durst zu loschen, so leidet die Seele brennenden Durst, weil sie keine Organe, keine Werkzeuge zur Be- friedigung mehr hat. Sie mu£ alles entbehren, daher ist «brennender Durst» eine sehr treffende Bezeichnung, und gerade darin driickt sich der Zustand von Kamaloka aus. Es ist das nicht eine Qualerei von auften, sondern die Qual der Unerfullbarkeit der noch vorhan- denen Genufifahigkeit. Warum mufi die Seele diese Qual leiden? Damit der Mensch sich nach und nach diese sinnlichen Begierden und Wunsche abgewohnt, damit die Seele sich loslose von der Erde, sich lautere und reinige. Wenn es so weit ist, dann ist die Kamaloka-Zeit zu Ende, dann steigt der Mensch auf zum Devachan. Wie durchlebt nun die Seele das Leben im Kamaloka? Der Mensch durchlebt im Kamaloka noch einmal sein ganzes Leben, aber er durchlebt es riickwarts. Er durchlauft die ganze Lebenszeit von der Todesstunde bis zur Geburt riickwarts, Tag fur Tag mit al- ien Erlebnissen, Geschehnissen und Taten. Und was ist der Sinn da- von? Es hat den Sinn, dafi er sozusagen bei jedem Ereignis Halt macht, um sich das Hangen am Physisch-Materiellen abzugewoh- nen. Er durchlebt nochmals alle Geniisse, aber so, daft er sie entbeh- ren mufi, dafi er sie nicht befriedigen kann. Dadurch gewohnt er sich heraus aus dem physischen Leben. Und wenn er so sein Leben durchlebt hat bis zur Geburt, dann kann er, mit den biblischen Worten, eingehen in das «Reich der Himmel», wie Christus sagt: «So ihr nicht werdet wie die Kindlein, konnt ihr nicht kommen in die Reiche der Himmel.» Alle Evangelienworte sind sehr tief, und man lernt ihre Tiefe kennen, wenn man nach und nach in die gott- liche Weisheit eindringt. Einzelne Momente miissen wir noch herausheben aus diesem Kamaloka-Leben, die besonders wichtig und lehrreich sind. Zu den verschiedenen Gefuhlen, die dem Menschen im Leben anhaften, gehort besonders das eigentliche Daseinsgefuhl, das Le- bensgefuhl, die Freude am Leben uberhaupt, am Drinnenstecken im physischen Korper. Darum ist es eine Hauptentbehrung, keinen physischen Korper mehr zu haben. Wir werden nun dadurch das furchtbare Schicksal und die entsetzlichen Qualen jener Ungliick- lichen verstehen, welche durch Selbstmord aus dem Leben scheiden. Beim naturlichen Tod ist die Trennung der drei Korper verhaltnis- mafiig eine leichte. Selbst bei Schlagflufi oder sonst einer schnellen naturlichen Todesart ist in Wirklichkeit schon langst die Trennung dieser hoheren Glieder voneinander vorbereitet worden; sie trennen sich leicht, und die Entbehrung des physischen Leibes ist dann nur eine sehr geringe. Aber bei einer so gewaltsamen plotzlichen Tren- nung vom Korper wie bei einem Selbstmorder, wo noch alles ge- sund ist und noch fest zusammenhalt, da tritt unmittelbar nach dem Tode eine starke Entbehrung des physischen Korpers auf, die furchtbare Leiden verursacht. Es ist ein furchtbares Schicksal. Der Selbstmorder fuhlt sich wie ausgehohlt und beginnt nun ein grausi- ges Suchen nach dem so plotzlich entzogenen physischen Korper. Nichts lafit sich damit vergleichen. Es wird nun mancher sagen: Der Lebensiiberdriissige hangt ja gar nicht mehr am Leben, sonst hatte er es sich nicht genommen. - Das ist eine Tauschung, denn gerade der Selbstmorder hangt zu sehr am Leben; weil es ihm aber die Befriedigung gewohnter Genusse nicht mehr bietet, weil es ihm vielleicht durch veranderte Verhaltnisse manches versagt, darum geht er in den Tod, und darum ist ihm nun die Entbehrung des physischen Korpers unsagbar grofi. Aber nicht fur alle ist das Kamaloka-Leben so schwer. Wer weni- ger an materiellen Geniissen hing, fur den ist naturlich auch das Ab- gewohnen, die Entbehrung keine so schwere. Aber auch er mufi ganz heraus aus seinem physischen Leben, denn das Kamaloka- Leben hat noch einen anderen Sinn. Der Mensch vollbringt wahrend seines Lebens nicht nur solche Dinge, welche Genufi bereiten, sondern er lebt hier zusammen mit anderen Menschen und Geschopfen; bewulk oder unbewufit, ab- sichtlich oder unabsichtlich verursacht er Menschen und Tieren Freude und Leid, Lust und Schmerz. Auch das trifft man wieder beim Durchlaufen der Kamaloka-Zeit. Man kommt zuriick an die Stelle, den Ort und Moment, wo man den anderen Wesen Schmerz bereitete. Damals machte man den Schmerz anderen fiihlbar, nun- mehr mufi man dieselben Schmerzen in der eigenen Seele erleiden. All die Qualen, die ich je einem anderen Wesen bereitet habe, mull ich nun in der eigenen Seele durchmachen. Ich stecke gleichsam in dem Menschen, in dem Tiere drinnen und lerne kennen, was das an- dere Wesen durch mich gelitten hat, und nun mufi ich alle diese Qualen und Schmerzen selbst erleiden. Dem kann man nicht entge- hen. Das ist aber nicht etwa die Wirkung von Karma, sondern nur das Loslosen vom Irdischen. Ganz besonders furchterlich ist da- durch das Kamaloka des Vivisektors. Der Theosoph darf nicht Kri- tik iiben an dem, was die Welterscheinungen bieten, wohl aber kann er begreifen, wie der moderne Mensch zu solchen Dingen kommen konnte. Im Mittelalter wiirde kein Mensch daran gedacht haben, und in alter Zeit wiirde es jeder Arzt fur den grofken Unsinn gehalten haben, das Leben zu zerstoren, um das Leben kennenzuler- nen, denn wahr ist es, da£ noch im Mittelalter ein grower Teil der Menschen hellsehend war und die Arzte den Menschen durchschauen konnten und sahen, was in ihm beschadigt war und was ihm fehlte. So zum Beispiel Paracelsus; er durchschaute den physischen Leib. Aber die Zeit der materiellen Kultur mulke kommen, wo das Hell- sehen verlorenging. Namentlich bei den heutigen Arzten und Na- turforschern sehen wir dies, und die Vivisektion war eine Folge da- von. Somit ist sie zu begreifen, aber niemals zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Unfehlbar treten die Folgen eines solchen Qualen verursachenden Lebens ein: Der Vivisektor mufi nach dem Tode selbst genau alle die Qualen durchmachen, die er den Tieren zuge- fiigt hat, seine Seele steckt gleichsam drinnen in jedem Schmerz, den er bereitet hat. Seine Absichtslosigkeit, das Vorschieben der Wissen- schaft, «der gute Zweck», sind keine Entschuldigungen. Das Gesetz des geistigen Lebens ist unbeugsam. Wie lange bleibt nun der Mensch in Kamaloka? Ein Drittel seiner Lebenszeit. Wurde der Mensch fiinfiindsiebzig Jahre alt, so dauert der Aufenthalt in Kamaloka etwa fiinfundzwanzig Jahre. Was geschieht dann? Die Astralkorper der Menschen sind sehr verschieden in Farbe und Form. Der Astralkorper eines niedrigste- henden Menschen ist durchdrungen von alien moglichen Gebilden, von niederen Trieben; er hat eine rotlich-graue Grundfarbe mit rot- lich-grauen Ausstrahlungen und unterscheidet sich in der Form nicht von gewissen Tieren. Ganz anders ist es bei einem Gebildeten oder gar bei einem Idealisten wie Schiller, oder bei einem Heiligen wie Franz von Assisi; sie versagten sich manches, veredelten ihre Triebe und so weiter. Je mehr aber der Mensch von seinem Ich aus an sich arbeitet, desto mehr Strahlungen gehen aus von der blauli- chen Kugel, dem Ich-Zentrum; diese Strahlungen bedeuten Krafte, durch die der Mensch den Astralkorper in seine Gewalt bekommt. Daher kann man sagen: Der Mensch hat zwei Astralleiber, einen Teil, der mit den tierischen Begierden geblieben ist, und einen ande- ren Teil, den der Mensch selbst hineingearbeitet hat. Wenn der Mensch seine Kamaloka-Zeit durchgemacht hat, dann ist er reif, den veredelten Teil seines Astralkorpers herauszuheben aus dem niederen. Dieser niedere Teil bleibt zuriick, und was er aus sich gemacht hat, das zieht er heraus. Beim Wilden und wenig kulti- vierten Menschen bleibt ein grower Teil als niederer Astralleib zu- riick, beim Gebildeten weniger. Wenn zum Beispiel ein Franz von Assisi stirbt, bleibt sehr wenig zuriick, und ein machtiger, hoher Astralleib wird herausgezogen, denn er hat viel an sich gearbeitet. Das, was zuriickbleibt, ist der dritte Leichnam des Menschen: die niederen Triebe und Instinkte, die der Mensch noch nicht veredelt hat. Dieser Leichnam schwebt fortan iiberall im Astralraum umher, und mancher schadliche Einflufi geht von ihm aus. Das ist auch ein Zweites, was in spiritistischen Sitzungen erschei- nen kann. Dieser Astralleichnam bleibt namlich oft lange Zeit erhal- ten und kann sich mittels eines Mediums kundgeben, und oft glau- ben die Leute dann, es sei der Verstorbene selbst; es ist aber nur sein Astralleichnam. Wie in einer Hiilse enthalt er dessen niedere Triebe und Gewohnheiten; er kann auf Befragen auch Antwort geben, er kann Auskunft erteilen und kann ebenso verniinftig reden und sein, wie der niedere Mensch verniinftig war. Viele Verwechslungen kommen dadurch vor. Ein eklatantes Beispiel bietet die Broschure des Spiritisten Langsdorff, in der er behauptet, eine Zusammenkunft mit H.P.B. gehabt zu haben. Auf Langsdorff wirkt namlich die Idee der Wiederverkorperung wie das rote Tuch auf den Stier; er mochte alles in Bewegung setzen, um diese Lehre zu widerlegen. Er hafit H. P. B., weil sie diese Lehre gelehrt und verbreitet hat. Nun berich- tet er in dieser Broschure, da$ er H. P. B. zitierte und dafi sie ihm sagte, da$ nicht nur die Reinkarnationslehre falsch sei, sondern auch, wie sehr sie es bedaure, dieselbe gelehrt zu haben. Das kann al- les richtig sein, nur da$ Langsdorff nicht H. P. B., sondern deren nie- deren Astralleichnam zitiert und befragt hat. Und dafi dieser niedere Astralleichnam von H.P.B. derartig antwortete, ist jetzt ganz be- greiflich, wenn man wei£, da& sie in der ersten Zeit ihrer Entwicke- lung in der «Isis Unveiled » wirklich die Wiederverkorperungslehre verwarf und bekampfte. Sie selbst stieg in ihrer Erkenntnis, aber ihr Irrtum blieb mit der astralen Hiille zuruck. Dieser dritte Leichnam, die Astralhiille, lost sich nach und nach auf, und es ist wichtig, dafi er ganz aufgelost ist, wenn der Mensch wiederum zu einer neuen Verkorperung zuruckkommt. In den al- lermeisten Fallen tritt das auch zu. Aber es gibt Ausnahmen, wo ein Mensch sich schnell wiederverkorpert, ehe sein astraler Leichnam zerronnen ist. Das gibt dann fur diesen Menschen schwierige Lagen, wenn er bei seiner Wiederverkorperung seinen eigenen Astralleich- nam noch vorfindet, der alles das noch enthalt, was in seinem vorigen Leben noch unvollkommen war. VIERTER VORTRAG Stuttgart, 25. August 1906 Wir haben gesehen, wie der Mensch im Tode erst den physischen, dann den atherischen und schlieftlich den niederen Astralleib als Leichname zurucklafit. Was bleibt nun dem Menschen nach dem Abstreifen dieser drei Leiber? Das Erinnerungsbild, das nach dem Tode vor die Seele tritt, verschwindet in dem Augenblicke, wo der Atherleib sich heraushebt aus dem Astralleib; da sinkt es sozusagen ins Unbewufite, es verschwindet als unmittelbar seelischer Ein- druck. Aber etwas Wichtiges bleibt davon zuriick: das Bild schwin- det, aber die Frucht bleibt. Wie eine Art Kraftextrakt bleibt das ganze Ertragnis des letztvergangenen Lebens in dem hdheren Astralleib und ruht darin. Der Mensch hat aber schon sehr oft diesen Prozefi durchge- macht. Bei jedem Tode nach seinen verschiedenen Inkarnationen trat das Erinnerungsbild vor seine Seele und hinterHefi diesen soge- nannten Kraftextrakt. So hat ein Leben nach dem andern ein Bild hinzugefiigt. Ein Mensch, der sich zum erstenmal verkorperte, hatte nach dem Tode das erste Erinnerungsbild, nach der zweiten Inkar- nation das zweite Bild und dieses schon reicher als das erste und so fort. In diesen zusammengelegten Bildern haben wir eine Art von neuem Element des Menschen. Vor dem ersten Tode bestand der Mensch aus den vier Korpern; stirbt er zum ersten Male, so nimmt er das erste Bild mit sich. Nach seiner Wiederverkorperung hat er nicht nur die vier Wesensglieder, sondern auch noch dieses Ertragnis des fruheren Lebens. Das ist der Kausaikorper. Es besteht nunmehr der Mensch aus fiinf Korpern: dem physischen, atherischen, dem Astralkorper, Ich und Kausaikorper. Wenn dieser Kausaikorper ein- mal da ist, dann bleibt er; aber er hat sich aus den Ertragnissen der Leben erst zusammengesetzt. Nun begreift man den Unterschied zwischen den einzelnen Menschen. Diejenigen, die oft gelebt haben, also schon viele Inkarnationen durchgemacht haben, die haben ih- rem Lebensbuche viele Blatter beigefiigt, sind hochentwickelt und haben einen reichen Kausalleib; die anderen sind erst durch wenige Leben hindurchgeschritten, haben daher weniger Friichte gesammelt und besitzen deswegen einen weniger entwickelten Kausalkorper. Welchen Sinn hat dieses wiederholte Erscheinen des Menschen auf der Erde? Waren die Inkarnationen ohne Zusammenhang, dann ware dies freilich sinnlos. So ist es aber nicht. Bedenken wir die ver- schiedenen Lebensverhaltnisse, die ein Mensch durchmacht, der ein paar Jahrhunderte nach Christi Geburt lebte und der sich heute wieder inkarniert. Heute ist des Menschen Lebenszeit vom sechsten bis vierzehnten Jahre schon ausgefullt mit dem Erwerben von Kenntnissen: Lesen, Schreiben und so weiter. Der heutige Mensch hat ganz andere Gelegenheiten, seine Personlichkeit zu kultivieren und heranzubilden. Es sind die Inkarnationen so geordnet, dafi der Mensch erst dann wiedererscheint, wenn er in neue Verhaltnisse hineinkommt, ganz andere Gelegenheiten und Entwickelungsmog- lichkeiten vorfindet, und das ist immer schon nach einigen Jahrhun- derten der Fall. Wie stark entwickelt sich die Erde in jeder Hinsicht! Vor wenigen tausend Jahren war die Gegend hier mit Urwaldern be- deckt, in denen wilde Tiere hausten. Die Menschen lebten in Hoh- len, bekleideten sich mit Tierfellen und verstanden nur in primitiver Weise, Feuer zu machen und Werkzeuge herzustellen. Wie anders ist es heute! So verandert sich in verhaltnismafiig kurzer Zeit das Ant- litz der Erde. Ein Mensch, der zur Zeit der alten Germanen lebte, hatte ein ganz anderes Bild von der Welt als derjenige, der heute hier lesen und schreiben lernt. Mit der veranderten Erde lernt er ganz Neues und eignet es sich an. Wie lange dauert es nun, bis der Mensch in einer neuen Verkor- perung erscheint? Von welchen Faktoren hangt das ab? Die Ant- wort ergibt sich aus der folgenden Betrachtung. Wir miissen sehen, was mit der Veranderung der Erde zusammenhangt. Im Laufe der Zeiten haben immer gewisse Wesenheiten als heili- ge Symbole eine besondere Verehrung genossen. So zum Beispiel verehrte man in Persien bis 3000 Jahre vor Christi Geburt die Zwil- linge. Von 3000 bis 800 vor Christi verehrte man in Agypten den heiligen Stier Apis und zugleich in Vorderasien den Mithrasstier. Von ungefahr 800 vor Christi an tritt ein anderes Tier in den Vor- dergrund, der Widder oder das Lamm, und damit entstand die Sage von Jason, der das Goldene Vlies vom heiligen Widder aus Asien, von jenseits des Meeres, heruberholte. Das geht noch weiter. Das Lamm wurde so heilig verehrt, dafi Christus sich als das «Lamm Gottes» bezeichnete, und das erste christliche Symbol war nicht das Kreuz, an dem der Erloser hing, sondern das Kreuz mit dem Lamm. Das alles bedeutet drei aufeinanderfolgende Kulturzustande, und das hangt zusammen mit bedeutungsvollen Vorgangen am Himmel. Der Gang der Sonne geht am Himmel entlang einer gewissen Zone, dem Tierkreis, und das Merkwiirdige ist, dafi die Sonne, die beim Anbruch des Fruhlings in einem bestimmten Punkt des Tierkreises aufgeht, innerhalb einer bestimmten Epoche immer weiterriickt, so daft sie in einem Zeitraum von 2160 Jahren von einem Sternbild in ein anderes riickt. So ging die Sonne im Jahre 3000 vor Christi im Friihling auf im Sternbild des Stiers, noch friiher im Sternbild der Zwillinge und ungefahr 800 Jahre vor Christi im Sternbild des Widders. Dieser Punkt riickt also jedes Jahr ein Stiickchen weiter, nach 2160 Jahren tritt er in das nachste Sternbild ein, und die Volker wahlten als Symbol ihrer Verehrung das Zeichen am Himmel, in dem die Sonne im Friihling aufgeht, und brachten ihm ihre Vereh- rung dar. Wiirden wir heute noch die gewaltigen Gefiihle und erha- benen Stimmungen verstehen, welche die Alten damit verbanden, als sie dies en Augenblick des Eintrittes der Sonne in ein neues Stern- bild erlebten, dann wiirden wir auch die Bedeutung des Momentes verstanden haben, als die Sonne in das Sternbild der Fische eintrat. Aber das kann unsere materialistische Zeit nicht. Was sah denn der damalige Mensch in diesem Vorgange? Die Alten sahen darin die Naturkraft verkorpert. Im Winter lag sie im Schlaf gebunden, und im Friihling wurde sie von der Sonne wieder hervorgerufen. Das Sternbild nun, in dem im Friihling die Sonne er- schien, das der Sonne neue Kraft gab, das wurde als etwas Vereh- rungswiirdiges empfunden. Das Sternbild symbolisiert also die auf- erweckende Kraft. Die Alten wulken, daft mit einem solchen Vor- rucken der Sonne etwas ganz Wichtiges verbunden ist, denn die Sonnenstrahlen fallen dann unter ganz anderen Verhaltnissen ein. Und wirklich bedeutet ein solcher Zeitraum von 2160 Jahren eben den Eintritt ganz anderer Verhaltnisse auf der Erde. Diese Zeitperio- de bringt nun der Mensch im Devachan zu, urn vom Tode zu einer neuen Geburt zu kommen. Der Okkultismus hat diese 2160 Jahre von jeher als einen Zeitraum anerkannt, in dem die Zustande auf Er- den sich derart andern, dafi der Mensch wiedererscheinen kann, um etwas Neues zu erleben. 2160 Jahre vergehen also zwischen zwei Verkorperungen. Hier- bei ist aber in Betracht zu ziehen, dafi in dieser Zeit von 2160 Jahren der Mensch eigentlich zweimal erscheint, so dafi mithin schon tau- send Jahre durchschnittlich den eigentlichen Zeitraum bilden, der zwischen zwei Verkorperungen liegt. Das geschieht darum, weil in der Regel beim Menschen eine Verkorperung mannlich und eine weiblich ist. Es ist unrichtig, dafi alle sieben Mai eine mannliche und eine weibliche Inkarnation sich abwechseln. Die Erfahrungen einer Seele sind sehr verschieden, ob sie mannlich oder weiblich inkar- niert war; das ist ja begreiflich. Daher erscheint sie im Zeitraum von 2160 Jahren einmal mannlich und einmal weiblich. Dann hat der Mensch alle Erfahrungen gemacht, die er in den gegebenen vorlie- genden Verhaltnissen machen kann. Da hatte er die Gelegenheit und Moglichkeit, seinem Lebensbuche ein neues Blatt hinzuzufiigen. Solche radikale Veranderungen der Erde und der irdischen Verhalt- nisse sind eine Lehrzeit fur die Seele. Das ist der Sinn des Wieder- erscheinens, der Reinkarnation. Die Frucht des Erinnerungsbildes, der Kausalleib und der gerei- nigte Astralleib bleiben beim Menschen, er verliert sie fortan nie wieder. Bei seinem Eintritt in das Devachan nimmt er den Kausal- leib und einen Teil seines Astralleibes mit, und zwar den gereinig- ten, denn das, was er sich erarbeitet hat, bleibt ihm im Devachan und immer. Nun macht er seine Devachanzeit durch. Der Wilde hat naturlich erst wenig an seinem Astralleibe gearbeitet und nur ein Flammchen nimmt er mit ins Devachan, seine Erinnerungsbilder ge- horen ihm mehr unbewulk an. Ein Franz von Assisi hat sich dage- gen einen vollkommen schon gegliederten Astralleib errungen und lebt mit diesem im Devachan. Wenn der Mensch den niederen Astralleib abgestreift hat, sieht er in gewisser Weise sich selbst wie aufier sich stehend vor sich. Das ist der Moment, wo er ins Deva- chan eintritt. Das Devachan hat gleichsam vier Abteilungen, die wir nennen konnen: 1. die Kontinente 2. Fliisse und Meere 3. die Luft, den Atherraum 4. die Region der geistigen Urbilder. In dem ersten Teil, den Kontinenten, sieht man alles in einem ne- gativen Bilde, gleichsam wie auf einer photografischen Platte. Was hier auf Erden je physisch gewesen ist und noch ist, alles, was je auf dieser Erde an physischen Mineralien, Pflanzen und Tieren war und noch ist, erscheint als negative Gestalten. Und wenn man sich unter diesen negativen Gestalten selbst negativ sieht, dann ist man im Devachan. Was hat das fur einen Sinn, dafi man sich so selbst sieht? Man sieht sich nicht nur einmal, sondern nach und nach so, wie man in friiheren Leben ausgeschaut hat, und das hat einen tiefen Sinn. Goethe sagt: Das Auge wird von dem Licht fur das Licht gebil- det. - Er meint damit, das Licht sei der Schopfer des Auges, und das ist richtig. Das begreifen wir, wenn wir sehen, wie aus Mangel an Licht das Auge riickgebildet wird. Gewisse Tiere zum Beispiel wan- derten einst in Kentucky in Hohlen ein. Sie brauchten kein Sehver- mogen mehr, denn die Hohlen waren finster. Nach und nach verlo- ren sie das Augenlicht, die Augen verkummerten. Der Saftezuflufi wandte sich einem anderen Organ zu, das sie jetzt notiger gebrauch- ten. Weshalb haben sie das Augenlicht verloren? Weil ihre Welt oh- ne Licht war. Die Abwesenheit des Lichtes hat das Sehvermogen ge- nommen. Ware also kein Licht, so ware kein Auge. In dem Licht selbst sind die schopferischen Krafte fur das Auge, geradeso wie in der Tonwelt die schopferischen Krafte fur das Ohr sind. Kurz, der ganze Leib, alle Organe wurden von den schopferischen Kraften des Universums gebildet. Was hat das Gehirn aufgebaut? Gabe es nichts nachzudenken, gabe es auch kein Gehirn. Es gibt gewaltige Naturgesetze; ein Kepler, Galilei richteten den Verstand auf diese Gesetze. Wer schuf das Verstandesorgan? Die Weisheit in der Natur! Mit einer gewissen Vollkommenheit der Organe betritt der Mensch die irdische Welt. Aber es sind ja inzwischen neue Verhalt- nisse eingetreten; die verarbeite ich nun mit dem Geiste. Alles aber, was ich erlebe, ist schopferisch. Die Augen, die ich schon habe, der Verstand, den ich schon habe, sind von den vorigen Inkarnationen gebildet. Komme ich nach dem Tode ins Devachan, so finde ich, wie gesagt, das Bild des Leibes, wie er im letzten Leben war, und habe noch in mir die Frucht des Erinnerungsbildes an das letzte Leben. Ich kann nun vergleichen, wie ich mich in verschiedenen Leben ent- wickelte, wie ich war, ehe ich die Erfahrungen des letzten Lebens hatte, und was aus mir werden kann, wenn ich die Erfahrungen des letzten Lebens hinzufuge. Danach gestalte ich mir nun im Bilde ei- nen neuen Leib, der eine Stufe hoher steht als mein voriger Korper. Auf der ersten Stufe im Devachan korrigiert also der Mensch das friihere Lebensbild: Er bereitet sich aus den Friichten des vorigen Lebens selbst das Bild seines Korpers fur die nachste Inkarnation. Auf der zweiten Devachanstufe pulsiert das Leben als Wirklich- keit gleichsam in Flussen und Stromen. Wahrend des irdischen Da- seins hat der Mensch das Leben in sich, es konnte nicht wahrgenom- men werden; jetzt sieht er es dahinfluten, und er benutzt es, um die Form, die er auf der ersten Stufe gemacht hat, zu beleben. Auf der dritten Devachanstufe hat der Mensch um sich her alles, was fruher in ihm war an Leidenschaften, Gefuhlen und Affekten; wie Wolken, Donner und Blitze tritt es ihm hier entgegen. Das alles sieht er nun gleichsam objektiv, er lernt es kennen und beachten wie das Physische auf der Erde und sammelt seine Erfahrungen in bezug auf das seelische Leben. Durch dieses Sehen der Bilder des seelischen Lebens kann man sich die seelischen Eigentumlichkeiten einverlei- ben, man kann den auf der ersten Stufe gebildeten Korper beseelen. Das ist der Sinn des Devachans. Der Mensch mufi im Devachan eine Stufe weiterkommen; so bereitet er sich selbst das Bild seines Korpers £ur die nachste Inkarnation. Das ist eine der Aufgaben, die der Mensch im Devachan hat. Aber der Mensch hat noch viele Aufgaben im Devachan. Er ist keineswegs nur mit sich selbst beschaftigt. Er tut das alles auch nicht ohne Bewufitsein. Der Mensch lebt bewufit im Devachan, und falsch ist die Behauptung des Gegenteils in theosophischen Biichern. Wie geht das aber zu? Wenn der Mensch schlaft, ist der Astralleib aus dem physischen und Atherleib herausgetreten, und dann hat der Mensch kein Be- wulksein, aber nur so lange, als der Astralleib seine gewohnliche Ar- beit verrichten mufi: namlich den abgearbeiteten und ermudeten physischen Korper auszubessern und zu harmonisieren; so lange ist der Mensch ohne Bewulksein. Wenn der Mensch aber gestorben ist, hat der Astralleib diese Tatigkeit nicht mehr auszuiiben, und in demselben Mafie, in dem er befreit wird von der Tatigkeit am physi- schen Korper, erwacht in ihm das Bewulksein. Sein Bewulksein wurde ja wahrend des Lebens am Tage verdunkelt und eingedammt durch die physische Macht des Korpers, und nachts muEte er arbei- ten an diesem physischen Korper. Wenn nun nach dem Tode die Krafte frei werden, dann treten am Astralleib sogleich ganz be- stimmte Organe hervor. Diese Organe sind die sieben Lotusblumen, Chakrams. So entsteht an der Nasenwurzel, zwischen den Augen- brauen die zweiblattrige Lotusblume. Hellsehende Kiinstler haben das gewulk und ihren Kunstwerken das Symbol dafur gegeben: Michelangelo bildete seinen «Moses» mit zwei Hornern. Die anderen Lotusblumen sind in folgender Weise verteilt: die sechzehnblattrige Lotusblume in der Nahe des Kehlkopfes, die zwolfblattrige Lotusblume in der Nahe des Herzens, die acht- oder zehnblattrige Lotusblume in der Nahe der Magen- grube, eine sechs- und eine vierblattrige sind weiter unten. Diese astralen Organe sind beim gewohnlichen heutigen Men- schen kaum angedeutet zu sehen, aber wenn er hellsehend wird, oder bei Medien im Trancezustand, treten sie scharf hervor in lebhaften, leuchtenden Farben und bewegen sich. In dem Augenblick, wo die Lotusblumen sich bewegen, nimmt der Mensch in der Astralwelt wahr. Der Unterschied zwischen phy- sischen und astralen Organen besteht darin, dafi die physischen Sin- nesorgane des Menschen passiv sind; sie lassen alles von aufien auf sich einwirken. Auge, Ohr und so weiter sind zunachst im Zustande der Ruhe, sie miissen warten, bis ihnen etwas geboten wird, Licht, Tone und so weiter. Die geistigen Organe sind im Gegensatz dazu aktiv, sie umfassen klammerartig den Gegenstand. Diese Tatigkeit kann aber erst dann erwachen, wenn die Krafte des Astralleibes nicht anderweitig gebraucht werden; dann aber stromen sie in die Lotusblumen ein. Auch in Kamaloka, solange die niederen Teile des Astralleibes noch mit dem Menschen verbunden sind, findet immer noch eine Triibung statt. Wenn aber der astrale Leichnam abgesto- fien ist und nur das dauernd Erworbene zuriickbleibt, also an der Pforte von Devachan, dann sind diese astralen Sinnesorgane zu vol- ler Tatigkeit erwacht, und im Devachan lebt der Mensch in hohem Mafie bewufit mit diesen Sinnesorganen. Es ist nicht richtig, wenn in theosophischen Buchern gesagt wird, dafi der Mensch im Deva- chan schlaft, und es ist auch nicht richtig, da£ er nur mit sich selbst beschaftigt ist oder daft er die auf Erden angesponnenen Verhaltnis- se nicht fortgesetzt findet; eine echte, auf Geistesgemeinschaft ge- griindete Freundschaft setzt sich vielmehr mit grofierer Intensitat dort fort. Die Innigkeit der Freundschaft fiihrt der geistigen Ge- meinschaft im Devachan Nahrung zu, bereichert es mit neuen For- men. Das ist es gerade, was der Seele im Devachan Nahrung gibt. Auch das Verhaltnis des Menschen zur Natur, ein edler, asthetischer Naturgenufi, ist Nahrung fur das Leben der Seele im Devachan. Davon lebt, wie gesagt, der Mensch dort. Die Freundschaftsver- haltnisse sind gleichsam die Einrichtungsstucke, mit denen er sich umgibt. Die physischen Verhaltnisse durchkreuzen auf Erden diese Beziehungen oft genug. Im Devachan wird die Art und Weise, wie zwei Freunde beisammen sind, nur durch die Intensitat der Freund- schaft bestimmt. Also solche Verhaltnisse auf Erden anzukntipfen bedeutet, Erlebnisse zufiihren fiir das Leben im Devachan. So stellen sich die physischen Lebensverhaltnisse als wirkliche Erlebnisse im Devachan dar. FUNFTER VORTRAG Stuttgart, 26, August 1906 Wir haben uns gestern ein wenig bekanntgemacht mit dem Wesen von Devachan; nun liegt die Frage nahe: Wie kommt die eigentliche Seligkeit des Devachan zustande? - Die Tatigkeit im Devachan besteht hauptsachlich im Schopferischen, und es ist schwer, eine Vorstellung von dieser Seligkeit zu geben. Aber vielleicht wird der Vergleich mit etwas Irdischem sie uns naherbringen. Es gibt auf der Erde eine Empfindung, die sich am besten studie- ren lalk, wenn man ein Wesen bei einer Tatigkeit beobachtet, die mit dem Hervorbringen eines anderen Wesens zu tun hat, zum Bei- spiel ein Huhn, das ein Ei ausbriitet. Es ist das ein grotesker, aber sehr passender Vergleich. Fur die sinnliche Empfindung des Huhns ist das Briiten eine Seligkeit, ein ungeheures Wohlgefuhl. Das kann man nun auf das Geistige ubertragen und so sich das Devachan ausmalen. In der ersten Region, dem Kontinentalgebiet des Geisterlandes, wo alles Physische im Negativ, aber wie ein riesiges Tableau vor dem Menschen sich ausbreitet, wird er veranlalk, das Bild seines neuen Korpers hervorzubringen. Er tut das in ungehemmter Tatig- keit und empfindet dabei die Seligkeit des Hervorbringens. In der zweiten Region flutet das allgemeine Leben, das im physi- schen Leben an die Menschen-, Tier- und Pflanzenformen gebun- den, in jeder Wesenheit abgegrenzt ist, wie die Meereswasser dahin. Man sieht es dahinfluten, das allgemeine Leben, nicht nur aufierlich, sondern auch innerlich. Aufierlich dadurch, daft es rotlich-lilafarben flutet von Pflanzenform zu Pflanzenform, von Tierform zu Tier- form, als in der Einheit des Lebens begriffen. Im Devachan lebt das Leben. Alle Formen des geistigen Lebens, zum Beispiel das der christlichen Gemeinschaften, sieht man dort als gemeinsam fluten- des Leben. Auch den ersten Grundsatz des Theosophen, das all-eine Leben zu suchen, kann man dort recht ausiiben; dort sieht man das alien gemeinsame, das eine Leben fluten. In der dritten Region sieht man alles praktisch verwirklicht, was hier seelisch zwischen Mensch und Mensch spielt. Wenn zwei Men- schen sich lieben, sieht man dort die Liebe als ein Wesen selbst, das in der Liebe den Korper hat. Wenn man dies alles sich ausmalt, dann bekommt man ein Bild von der Seligkeit des Devachan. Wer davon etwas kennt, wird wenig Worte machen, weil das Geistige nicht zu schildern ist mit der physischen Sprache. Man darf aber nicht glauben, daft der Mensch untatig oder nur mit sich selbst beschaftigt sei im Devachan. Der Mensch hat noch anderes dort zu arbeiten. Das Antlitz der Erde verandert sich fortwahrend mitsamt der ganzen Fauna und Flora. Wie anders war es zum Beispiel im Norden von Sibirien zu der Zeit, als das Mammut, das man jetzt in Eisfel- dern wie lebendig vereist wiederfindet, noch dort lebte! Wie anders hier, wo einst Urwalder den Boden bedeckten, wo wilde Tiere der herften Zone hausten, kurz, eine Tropenwelt sich vorfand! Wer macht das? Wer andert den Zustand der Erde? Wie steht es mit der Seele, dem Geist der Tiere? Wie steht es mit der Seele der Pflanzen? Wenn wir den physischen Plan betrachten, sagen wir mit Recht: Der Mensch hat hier sein Ich, hier seinen Wohnort; er ist das her- vorragendste Geschopf unter den Wesen, die hier leben. Ganz an- ders ist es auf dem Astralplan. Sobald der Eingeweihte den Astral- plan betritt, lernt er eine ganze Reihe von neuen Wesenheiten ken- nen, die hier auf dem physischen Plane gar nicht vorhanden sind. Es ist in dieser Hinsicht gleich, ob es sich um einen eingeweihten Men- schen oder um einen Toten handelt; der Eingeweihte kann schon wahrend einer Verkorperung auf dem Astralplan arbeiten. Er sieht dort zum Beispiel die Gattungs- oder Gruppenseelen der Tiere; mit denen hat er dort so Umgang wie hier mit den Menschen; er sieht sie wie seinesgleichen. Die Tiere haben auf dem physischen Plan nur den physischen, Ather- und Astralleib; das Ich haben sie nicht auf dem physischen, sondern auf dem Astralplan. So wie Ihre zehn Fin- ger eine gemeinsame Seele haben, so haben alle Tiere einer Gattung eine gemeinsame Seele auf dem Astralplan. Das Ich der Tiergattung Lowe, Hund, Ameisen und so weiter ist dort vorhanden als eine Wesenheit. Es ist gleichsam, als schwebte das Ich im Astralraum und hielte an Seilen die verschiedenen Tiere wie Marionetten. Auch fur die Pflanzen gibt es solche Gruppenseelen; sie haben ihr Ich aber im Devachan. Da reichen die «Seile» gewissermaften noch hoher hin- auf. Und alle Mineralien aus gemeinsamen Stoffen, wie Gold, Dia- manten, Steine und so weiter, haben eine gemeinsame Gruppenseele in der oberen Partie des Devachan. So unterscheiden sich die Wesenheiten in ihrer Stufenfolge: Mensch Tier Pflanze Mineral Oberes Devachan - - Ich - ... . Lime der /» Akasha- Unteres Devachan - - Ich Astralleib Chromk Astralplan - Ich Astralleib Atherleib Physische Welt Ich - - - Astralleib Astralleib - - Atherleib Atherleib Atherleib - physischer physischer physischer physischer Leib Leib Leib Leib Wenn nun der Mensch gestorben ist, dann ist sein Ich auf dem Astralplan mit den Ichs - dieser ungewohnliche Plural kann nicht umgangen werden - der Tiere zusammen, und er kann dort eine Ar- beit verrichten wie die Ichs der Tiere. Diese Arbeit besteht darin, dafi er die Tierwelt nach und nach verandert. Im unteren Devachan findet er die Ichs der Pflanzen als seine Genossen; da kann er die Pflanzenwelt verandern. Auf diese Weise wirkt er selbst mit an der Umgestaltung der Erde. Mithin ist es der Mensch selbst, der die grofien Veranderungen der Erde vollbringt; er arbeitet selbst an dem Antlitz der Erde. Den so ganz veranderten Schauplatz bei seiner neuen Inkarnation hat der Mensch selbst bewirkt. Aber diese Arbeit verrichtet er unter der Lei- tung und Fuhrung hoherer Wesen. Es ist also durchaus wahr, wenn wir im Hinblick auf die Tier- und Pflanzenwelt, die sich fortwah- Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 9 5 Seite:49 rend verandert, sagen: Das ist das Werk der Verstorbenen. Die Toten arbeiten an der Umgestaltung der Fauna und Flora, ja selbst an der Umwandelung der physischen Formen der festen Erde. Erdenarbeit ist Totenarbeit. Auch in den Naturkraften haben wir die Handlun- gen der entkorperten Menschen zu sehen. Und wie gewaltig arbeiten diese Naturkrafte die Erde um! Alle Tatigkeit, alles Arbeiten hat einmal vor Zeiten einen Anfang genommen. Da gab es noch keine Pyramiden, da gab es auch noch keine Werkzeuge. Alles war da, wie die Gotter, oder wie die Mate- rialisten sagen, die Naturkrafte es gegeben hatten, und der Mensch war in das hineingesetzt. Jetzt ist rund um uns her die Erde durch aufiere Menschenarbeit umgestaltet; und was hier nicht erreicht wer- den kann, was der Mensch hier nicht tun kann, das tut er in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt. Somit hangt unsere eigene Entwik- kelung zusammen mit der Veranderung der ganzen Erde. Der Bau und die Evolution der Erde ist die Arbeit des Menschen auf den hoheren Planen, und je hoher sich der Mensch selbst entwickelt, um so rascher und vollkommener schreitet die Umgestaltung der physi- schen Erde und der Fauna und Flora vorwarts. Je hoher er entwickelt ist, desto langer hat er zu arbeiten in den hoheren Partien des Deva- chan. Der Wilde hat noch wenig Einblick darin. In vielen Sagen und Marchen hat der scheinbar kindliche, in Wirklichkeit aber von hohen Kraften inspirierte Menschengeist diese Tatsachen zum Ausdruck gebracht. Wie arbeiten nun die Krafte, um den Menschen zu einer neuen Inkarnation zu bringen? Ungefahr tausend Jahre gehen dahin zwi- schen Tod und neuer Inkarnation, wie wir sahen; in dieser Zeit reift die Seele aus, um den Weg zu einer neuen Geburt wieder anzutre- ten. Fur den Seher ist es aufierordentlich interessant, die astralische Welt zu durchforschen. Er kann zum Beispiel fliegende, in Auflo- sung begriffene Astralleichname beobachten. Der Astralleichnam ei- nes hochentwickelten Menschen, der an seinen niederen Trieben ge- arbeitet hat, lost sich rasch auf; aber langsam geht die Auflosung vor sich bei niedrigstehenden Menschen, die ihren Neigungen und Lei- denschaften freien Lauf gelassen haben. Da kann es sogar vorkom- men, dafi der alte zuriickgelassene Astralleichnam sich noch nicht aufgelost hat, wenn der urspriingliche Trager zu einer neuen Geburt schreitet. Und das ist dann ein schweres Schicksal. Es kann auch sein, daft ein Mensch durch besondere Umstande bald wiederkehrt und seinen alten Astralleichnam noch vorfindet; dieser hat dann ei- ne starke Anziehung zu ihm und schliipft mit hinein in den neuen Astralleib. Der Mensch bildet sich also wohl einen neuen Astralleib, aber sein alter verbindet sich damit, beide schleppt er dann mit sich durchs Leben. Der alte Astralleib tritt dann in bosen Traumen oder Visionen vor ihn als sein zweites Ich und umgaukelt, qualt und pei- nigt ihn. Das ist der unberechtigte, falsche «Hiiter der Schwelle». Dieser alte Astralleichnam tritt leicht aus dem Menschen heraus, weil er nicht fest mit den anderen Wesensgliedern verbunden ist, und erscheint dann als ein Doppelganger. Au£er diesen Gestalten sieht der Seher noch eine ganz besonders merkwurdige Art von Gebilden; es sind glockenformige Gebilde, die mit riesiger Schnelligkeit den Astralraum durchfliegen und durchschiefien. Das sind die noch nicht verkorperten, aber nach Verkorperung hinstrebenden Menschenkeime. Die Zeit und der Ort sind eigentlich ziemlich bedeutungslos fur diese zur Verkorperung hinstrebenden Menschenkeime, weil sie sich so leicht bewegen kon- nen. Sie sind mannigfaltig gefarbt und umgeben von einer Farben- atmosphare, an einer Stelle sind sie rot, an der anderen blau, mitten drinnen funkelt ein gelbleuchtender Strahl. Es sind dies also die eben aus dem Devachan in den Astralraum hineinkommenden Men- schenkeime. Was ist da geschehen? Der Mensch hatte den hoheren Astralleib und die Friichte der verschiedenen Leben als Kausalleib mit sich ins Devachan genommen, und nun sammelt er eine neue «Astralmaterie» um sich herum. Es ist das gleichsam, wie wenn her- umgestreute Eisenspane sich ordnen nach den Kraften eines Ma- gnets. Je nach den innewohnenden Kraften sammelt der Mensch die Astralmaterie um sich herum; bei einem guten Vorleben sammelt er anderes Material als bei einem schlechten. Das glockenformige Ge- bilde nun ist der fruhere Kausalleib, die Krafte des friiheren Astral- leibes und der neue Astralleib. Der Keim soli nun nicht mehr den al- ten Astralleib finden, sondern er soil sich einen neuen Astralleib bil- den aus der undifferenzierten Astralmaterie, so dafi dieser Vorgang von dem Menschen selbst abhangig ist: Je nach den Kraften des ver- gangenen Lebens ist die Form und Farbe des neuen Astralleibes. Das ist eine Tatsache, die man wohl beachten mufi. Warum schiefien die- se Menschenkeime mit solch rasender Schnelligkeit dahin? Weil das Elternpaar gesucht werden mu!5, das nach Charakter und Famihen- verhaltnissen zu dem Menschenkeime pafk. Die Schnelligkeit er- moglicht es, dafi das Elternpaar gefunden wird. Der Menschenkeim kann in diesem Moment hier, im nachsten schon in Amerika sein. In dem, was weiter geschieht, ist der Mensch auf Hilfe angewie- sen. Hohere Wesenheiten, die Lipikas, leiten den Menschenkeim hin zu dem entsprechenden Elternpaar, die Maharajas formen den Atherleib in Gemafiheit der Astralform und dessen, was die Eltern an aufierem physischem Korper beitragen. Bei dem Befruchtungsakt kann der Seher in der Leidenschaft, die sich dabei von seiten der El- tern entwickelt, auch Astralmaterie entdecken. Dadurch wird die Leidenschaftlichkeit des Kindes je nach der Intensitat dieser Leiden- schaft bestimmt. Dann schiefk die Athermaterie an von Nord, Slid, Ost und West, aus der Hohe und von der Tiefe. Nicht immer kann ein Elternpaar gefunden werden, das ganz ge- nau zu dem Menschenkeim pafk; es kann immer nur das am besten passende herausgesucht werden. Und ebensowenig kann ein physi- scher Leib gebaut werden, der ganz genau zu dem Atherleib des Men- schenkeimes palk. Eine vollige Harmonie kann es nie geben. Daher riihren die Zwiespalte im Menschen zwischen Seele und Korper. Unmittelbar vor der Verkorperung tritt ein sehr wichtiges Ereig- nis ein, das demjenigen im Moment des Todes parallel ist. Wie un- mittelbar nach dem Tode die Riickerinnerung an das vergangene Le- ben gleich einem Tableau vor die Seele tritt, so ist unmittelbar vor der Einkorperung eine Art Vorgesicht auf das kommende Leben vorhanden. Man sieht nicht alle Einzelheiten, aber in grofien Um- rissen alle Verhaltnisse im kommenden Leben vor sich. Dieser Mo- ment ist von ungeheurer Bedeutung. Es kommt vor, da$ Menschen, die in friiheren Leben viel gelitten haben und sehr Schweres durchge- macht haben, beim Anblick der neuen Verhaltnisse und Schicksale einen Schock bekommen und die Seele zuriickhalten vor der ganzen Einkorperung, so daft nur ein Teil der Seele in den Korper eingeht. Die Folge des Schocks bei einem solchen Vorgesicht ist die Geburt eines Idioten oder Epileptikers. In dem Moment der Verkorperung, gleich nach der Befruchtung, verdunkelt sich der gelbglanzende Faden im Kausalleib und ver- schwindet. Nur bei dem Eingeweihten bleibt er in alien Stadien. Nun darf man sich nicht vorstellen, dafi die hoheren Wesensglie- der von Anfang an in vollster Weise mit dem Embryo verbunden sind. Was seine Tatigkeit zunachst entfaltet, ist der Kausalkorper, denn dieser arbeitet schon bei der allerersten Entstehung des physi- schen Leibes. Der Atherleib fangt erst in der siebenten Woche an, am Embryo zu arbeiten, der Astralleib erst im siebenten Monat. Vorher arbeitet am Kinde der Atherleib und der Astralleib der Mut- ter. Es ist nun sehr wichtig fur die Erziehung der ersten Jahre beim Kinde, diese Korper weiterzuentwickeln. Diesem sollte bei der Er- ziehung des Kindes viel mehr Rechnung getragen werden, als es ge- schieht. Es sollte die Zeit beobachtet werden, wo der Atherleib und der Astralleib des Kindes anfangen mitzuarbeiten. Die Entwickelung geht nach der Geburt in verschiedenster Wei- se stufenformig weiter, und besonders wichtig fur die Erziehung ist dann die Zeit vom siebenten bis zum vierzehnten Lebens jahre. Wir werden dann morgen weiter sehen, wie die Theosophie sich zu den Erziehungsfragen stellt, die ja ein wichtiges Kapitel in der Mensch- heitsentwickelung darstellen. SECHSTER VORTRAG Stuttgart, 27. August 1906 Bei der Theosophie handelt es sich um eine im eminentesten Sinne praktische Auffassung des Lebens. Das Licht, das sie auf die Erzie- hungsfrage wirft, wird der Menschheit tiefen Nutzen bringen, lange bevor es sich um Hellsehen handelt; man kann sich schon iiberzeu- gen, dafi in der Theosophie Wahrheit ist fur das Leben, lange bevor man herantritt an das unmittelbare Schauen. Nach der Geburt tritt der Mensch hinein in ein neues Leben, und seine verschiedenen Leiber entwickeln sich in ganz verschiedener Art und Zeit. Der Erzieher sollte darauf Riicksicht nehmen. Ganz anders ist es vom ersten bis zum siebenten Jahre, ganz anders in den zweiten sieben Jahren, vom siebenten bis zum funfzehnten oder sechzehnten Jahre, bei den Knaben spater, bei den Madchen friiher. Wieder anders ist die Entwickelung nach dem funfzehnten Jahre oder, sagen wir, nach der Geschlechtsreife. Man lernt die Entwicke- lung des Menschen erst dann richtig verstehen, wenn man die ver- schiedenartige Entwickelung seiner Wesensglieder betrachtet. Von der Geburt bis zum siebenten Jahre kommt fur Eltern und Erzieher eigentlich nur der physische Leib des Kindes in Betracht. Durch die Geburt ist der physische Leib fur seine Umgebung frei ge- worden. Vor der Geburt bildet derselbe einen Bestandteil des Orga- nismus der Mutter. Die ganze Zeit wahrend der Keimung geht das Leben der Mutter und dasjenige des menschlichen Keimes ineinan- der. Der physische Leib der Mutter umhiillt den physischen Leib des Kindes; das bedeutet, dafi er noch unzuganglich ist fur die physi- sche Aufienwelt. Erst nach der Geburt andert sich dies. Er kann erst Eindriicke von anderen Wesen der physischen Welt bekommen, wenn er geboren ist. Damit ist aber noch nicht der Ather- und Astralleib fur die Auftenwelt zuganglich. Auf den Ather- und Astral - leib kann man zwischen dem ersten und siebenten Jahre von der Aufienwelt her deshalb noch nicht einwirken, weil beide noch mit der Ausbildung des eigenen physischen Leibes zu tun haben. Alle ih- re Tatigkeit richtet sich nach dem Innern des physischen Leibes; sie arbeiten an dessen Ausbau. Ungefahr gegen das siebente Lebensjahr fangt der Atherleib an, frei zu werden fur aufiere Eindriicke. Dann erst kann man auf den Atherleib einwirken. Zwischen dem sieben- ten und dem vierzehnten Jahre sollte man dagegen noch nicht auf den Astralleib wirken, denn man schadigt ihn dadurch, dafi man ihm die Moglichkeit entzieht, nach innen zu wirken. Es ist am be- sten, wenn man in den ersten sieben Jahren den Ather- und Astral- leib ganz unbehelligt lafk, wenn man damit rechnet, daft sich in diesen Jahren alles von selbst ergibt. Wie wirkt man in den ersten sieben Jahren am besten auf den Menschen ein? Indem man die Sinnesorgane ausbildet. Alles, was von aufien auf sie einwirkt, ist bedeutsam. Alles, was der Mensch in den ersten sieben Jahren sieht und hort, wirkt auf ihn ein durch die Sinnesorgane. Aber nicht durch einen Lehrstoff oder mundliche Be- lehrung wirkt man auf die Sinnesorgane ein, sondern durch das Bei- spiel, das Vorbild. Man muft dem Kinde etwas fiir seine Sinne bie- ten; das ist wichtiger als alles andere in den ersten sieben Jahren. Das Kind sieht, wie sich die Menschen benehmen in seiner Umgebung, es sieht es mit seinen Augen. Aristoteles sagt mit Recht: Der Mensch ist das nachahmendste der lebenden Wesen. - Vorzugsweise ist das in den ersten sieben Jahren der Fall. Nie wieder ist der Mensch so sehr der Nachahmung zuganglich wie in diesen ersten sieben Jahren. Darum eben mufi man in dieser Zeit auf die Sinnestatigkeit einwir- ken, muft sie herauszulocken suchen und zur eigenen Tatigkeit anre- gen. Daher ist es auch so verfehlt, wenn man in der friihen Jugend dem Kinde eine sogenannte «schone» Puppe gibt; dabei konnen die inneren Krafte nicht zur Arbeit kommen. Ein natiirlich entwickel- tes Kind weist sie ohnehin zuriick und halt sich lieber an ein Stuck Holz und dergleichen, das die Phantasie und Imagination zu eigener innerer Tatigkeit anregt. Auf den Ather- und Astralkorper braucht man keine besondere Lehrmethode anzuwenden, aber ungeheuer wichtig ist es, dafi die hoheren Einfliisse, die von der physischen Umgebung ohne bewulS- te Einwirkung auf sie iibergehen, giinstig sind. Sehr wichtig ist es, dafi der Mensch in diesem Lebensalter gerade von edlen, hochherzi- gen und gemiitvollen Menschen mit guten Gedankenformen umge- ben ist. Diese pragen sich den im Innern arbeitenden Wesensglie- dern ein. Das Vorbild also, auch in Gefiihlen und Gedanken, ist das wichtigste Erziehungsmittel. Nicht was man sagt, sondern wie man ist, wirkt in den ersten sieben Jahren auf das Kind ein. Wegen der ungemeinen Subtilitat dieser Wesensglieder mufi sich die Umgebung des Kindes aller unreinen, unmoralischen Gedanken und Gefiihle enthalten. In der Zeit vom siebenten bis vierzehnten, fiinfzehnten und sech- zehnten Jahre, also bis zur Geschlechtsreife, wird der Atherleib ge- radeso herausgeboren, wie bei der Geburt der physische Leib fur die Umgebung zuganglich wird. Da mull man also auf den Atherleib wirken. Der Atherleib ist der Trager des Gedachtnisses, der bleiben- den Gewohnheiten, des Temperamentes, der Neigungen und der bleib enden Begierden. Daher mu£ man, wenn dieser frei wird, vor allem seine Sorgfalt darauf wenden, diese Eigenschaften zu ent- wickeln; man mulS auf Gewohnheiten wirken, auf das Gedachtnis, iiberhaupt auf alles das, was dem Menschen einen dauernden Grund- stock des Charakters geben soli. Er wird wie ein Irrlicht, wenn nicht in dieser Zeit dafiir gesorgt wird, dafi gewisse Gewohnheiten wie ein roter Faden seinen Charakter durchziehen, damit er feststehen kann gegen die Stiirme des Lebens. Und jetzt mufi man auf das Gedacht- nis wirken; spater, nach dieser Zeit, wird das, was als Gedachtnis- stoff aufgenommen werden soil, schwer eingehen. Insbesondere wird auch der Sinn fur Kunst in dieser Zeit erwachen, namentlich fur eine solche Kunst, die sehr viel zu tun hat mit den Schwingun- gen des Atherleibes, namlich fur Musik. Sind hierfiir Talente vor- handen, so mufi man in diesen Jahren dafiir Sorge tragen, sie zur Entfaltung zu bringen. In dieser Zeit wirkt das Gleichnis; wenn man versucht, jetzt auch schon das Urteil auszubilden, so tut man un- recht. Unsere Zeit siindigt darin aufierordentlich viel. Man soil dafiir Sorge tragen, dafi das Kind moglichst viel durch Gleichnis se lernt; das Gedachtnis mufi Inhalt bekommen, die Vergleichungskraft mufi an sinnlichen Vorstellungen geiibt werden. Es mussen ihm Beispiele grower Menschen aus der Weltgeschichte vorgefiihrt werden; aber man darf nicht sagen, das ist gut oder das ist schlecht, denn das wur- de auf die Urteilskraft wirken. Man kann gar nicht gemig solche Bil- der, die auf den Atherleib wirken, oder Vergleiche mit dem Grofien auf der Welt dem Kinde vorhalten. Dabei ist es von groltem Nutzen, wenn man viel mit Sinnbildern arbeitet. Das ist die Zeit, wo die sin- nigen Marchen und Erzahlungen, die das Menschenleben in Bildern darstellen, machtig wirken. Dadurch macht man den Atherleib be- weglich, schmiegsam und gibt ihm dauernde Eindnicke. Wie mufke Goethe seiner Mutter dankbar sein, dafi sie ihm in dieser Zeit so viele Marchen erzahlte! Also, je spater man dazu kommt, das Urteil im Kinde hervorzu- rufen, desto besser ist es. Das Kind aber fragt «Warum?». Diese Fra- gen nach dem Wie und Warum sollen nicht mit abstrakten Erkla- rungen, sondern mit Beispielen, mit Sinnbildern beantwortet wer- den. Und wie unendlich wichtig ist es, die richtigen Sinnbilder zu finden! Wenn das Kind fragt nach Leben und Tod, nach den Ver- wandlungen des Menschen, so kann man ihm das Beispiel von der Raupe und Puppe vorfiihren; man macht ihm klar, wie gleichsam aus der Puppe heraus der Schmetterling aufersteht zu einem neuen Leben. Uberall in der Natur findet man solche Gleichnisse fur die hochsten Fragen. Ganz besonders aber wichtig ist in dieser Zeit fur das Kind die Autoritat. Nur darf es keine erzwungene Autoritat sein, sondern in ganz naturlicher Weise mufi der Lehrer Autoritat erlangen, damit das Kind glaubt, bevor sich ein Wissen entwickeln darf. Daher fordert die theosophische Padagogik nicht blofi intellek- tuelles Wissen, padagogische Grundsatze und Einsichten bei dem Erzieher, sondern sie fordert, dafi man solche Menschen dazu wahlt, die durch ihre natiirlichen Anlagen versprechen, eine Autoritat zu werden. Scheint dies eine Harte ? Aber wie sollte man sie nicht hin- einbringen, da die Zukunft der Menschheit davon abhangt! Gerade das ist eine Perspektive fur eine grofie Kulturaufgabe der Theo- sophie. Wenn dann der Mensch die dritten sieben Jahre antritt, die Zeit der Geschlechtsreife, wird der Astralleib frei, und an ihm hangt das Urteil, die Kritik, hangen die unmittelbaren Beziehungen zu den iibrigen Menschen. So wie die Gefiihle von Mensch zu Mensch er- wachen, so erwachen auch die Gefiihle fiir die iibrige Umwelt; da ist der Mensch reif, anzufangen zu begreifen. Die Personlichkeit wird mit dem Astralleib freigelegt; da mufi man das eigene Urteil aus dem Menschen herauslocken. Heutzutage wird er viel zu friih zur Kritik herausgefordert. Siebzehnjahrige Kritiker sind haufig, und wie viele schreiben und urteilen ganz und gar Unreifes fiir die Menschheit! Man mufi zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Jahre alt sein, ehe man selbst urteilen kann; das andere ist absolut unmoglich. Vom vierzehnten bis zum vierundzwanzigsten Jahre ist die Zeit, wo der Mensch am besten von der Welt lernen wird, wo alles fiir ihn Lehre wird, was ihn umgibt. So wachst er heran zur volligen Lebensreife. Das sind die grofien Grundsatze der Erziehung. Unzahlige Ein- zelheiten ergeben sich daraus. Die Theosophische Gesellschaft wird ein Buch herausgeben fiir Lehrer und Mutter, worin gezeigt wird, wie vom ersten bis siebenten Lebensjahre das Vorbild, vom sieben- ten bis vierzehnten Lebensjahre die Autoritat und vom vierzehnten bis vierundzwanzigsten Lebensjahre das selbstandige Urteil am Menschen arbeiten mufi, Das sollte ein Beispiel dafiir sein, wie die Theosophie ihre Kultur- aufgabe zu erfiillen sucht, wie sie auf Schritt und Tritt einzugreif en vermag in die wirklichen praktischen Aufgaben des Lebens. Ein anderes Beispiel fiir praktische Theosophie gibt die Betrach- tung des grofien Gesetzes von Karma. Es ist das ein Gesetz, das dem Menschen das Leben eigentlich erst verstandlich macht. Das Karma- gesetz ist nicht blofS ein theoretisches Gesetz oder etwas, was blo& unsere Wifibegierde befriedigt. Nein, auf Schritt und Tritt ist es fiir das Leben etwas, was Kraft zum Handeln und Sicherheit gibt, was alles Unverstandliche verstandlich macht. Zunachst antwortet das Karmagesetz auf eine grofte Lebensfrage: Wodurch kommt iiberhaupt unser Schicksal zustande? Warum ob- walten schon bei der Geburt der Kinder so verschiedene Verhaltnis- se? Man sieht zum Beispiel, wie ein Kind in Reichtum geboren wird, vielleicht auch mit grofien Talenten, von sorgsamster Liebe umge- ben ist. Und man sieht ein anderes Kind, geboren in Elend und Ar- mut, vielleicht mit geringen Talenten oder Fahigkeiten, so dafi es da- zu pradestiniert scheint, es zu nichts zu bringen; oder auch mit gro- j($en Fahigkeiten, die aber vielleicht nicht ausgebildet werden kon- nen. Das sind Ratselfragen des praktischen Lebens, und auf diese gibt nur die Theosophie eine Antwort. Diese Fragen muE der Mensch beantwortet haben, wenn er mit Kraft und Hoffnung im Leben dastehen soil. Und wie antwortet das Karmagesetz auf diese Fragen? Wir haben gesehen, dafi der Mensch wiederholte Leben auf der Erde durchlebt. Das Kind wird nicht zum ersten Male auf dieser Er- de geboren, es war schon oft da. Alles nun in der Welt draufien steht im Zusammenhang von Ursache und Wirkung; das erkennt jeder an. Das gro£e Ursachengesetz herrscht also in der Natur, und dieses Gesetz, auf das Geistige, auf die geistige Welt iibertragen, das ist das Karmagesetz. Wie wirkt das Gesetz nun in der Aufienwelt? Wenn wir eine Ku- gel nehmen, sie erhitzen und dann auf eine Holzplatte legen, so brennt sie ein Loch in das Holz hinein. Erhitzen wir eine andere Ku- gel, werfen sie erst ins Wasser und legen sie dann auf das Brett, dann brennt sie kein Loch in das Holz. Die Tatsache, dafi ich die Kugel ins Wasser werfe, ist bedeutsam fur das, was die Kugel nachher be- wirkt. Die Kugel hat gleichsam ein Erlebnis, und es ist verschieden, was sie vor diesem Erlebnis und nachher tut. So hangt die Wirkung ab von der Ursache. Das ist ein Beispiel aus der leblosen Natur, und so ist es in der ganzen Welt. Tiere, die sehend in finstere Hohlen ein- wandern, verlieren die Sehkraft. Wenn das Tier in einer spateren Generation dariiber nachdenken konnte: Warum habe ich keine Augen? - so miifite es sich sagen: Die Einwanderung meiner Vorfah- ren in diese Hohlen ist die Ursache meines Schicksals. - So ist das Erlebnis von vorher das Schicksal fur spater. So hangen die Dinge zusammen nach Ursache und Wirkung. Je weiter wir nun hinauf- riicken zum Menschen, desto individueller wird die ganze Sache. Das Tier hat eine Gattungsseele, und das Schicksal einer Gruppe von Tieren kniipft sich an an die Gruppenseele. Der Mensch dahin- gegen hat ein Ich fur sich. Dieses Einzel-Ich erleidet ein ahnliches Schicksal wie die Gruppenseele der Tiere. Wie die ganze Gattung von Tieren sich verwandelt, so verwandelt sich das einzelne Ich von einem Leben zum andern. Ursache und Wirkung pflanzen sich fort von einem Leben zum andern. Was ich heute erlebe, hat seine Ursa- che im friiheren Leben, und was ich heute tue, bildet mein Schicksal fiir das nachste Leben. In diesem Leben liegt nicht die Ursache zu der verschiedenartigen Geburt; nichts ist jetzt verschuldet. Die Ursache liegt in dem friiheren Leben. Der Mensch hat sich sein heutiges Schicksal selbst in dem vorigen Leben zubereitet. Nun kann man sagen: Aber muft das nicht gerade den Menschen niederdriicken und ihm jede Hoffnung nehmen? - Und doch ist das Karmagesetz das trostreichste Gesetz fiir das Leben. Denn so wahr es ist, daft nichts ohne Ursache ist, ebenso wahr ist es auch, daft nichts ohne Wirkung bleibt. Werde ich auch in Not und Elend ge- boren, habe ich auch geringe Fahigkeiten: Was ich tue, mufi seine Wirkung haben, und was ich mir zueigne durch Fleift und Morali- tat, das wird seine sichere Wirkung haben in folgenden Lebenslau- fen. Kann es mich niederdriicken, daft ich mein Schicksal selbst ver- dient habe, so kann es mich erheben, daft ich mir mein Schicksal fiir die Zukunft selbst zimmern kann. - Wer dieses Gesetz in sein Den- ken und Fiihlen aufnimmt, wird sehen, welche Kraft und Sicherheit im Leben er gewinnt. Es ist nicht so wichtig, daft man das Gesetz im einzelnen durchschaut; das kommt erst auf den hoheren Stufen der hellseherischen Erkenntnis. Viel wichtiger ist, daft man im Sinne dieses Gesetzes die Welt betrachtet und danach lebt. Tut man dies mit Ernst durch Jahre hindurch, dann wird sich dieses Gesetz ganz von selbst dem Gefiihl mitteilen. Es bewahrheitet sich durch Anwendung. Nun kann jemand einwenden: Da wiirden wir ja zu reinen Fata- listen! Alles, was uns trifft, haben wir uns selbst zubereitet, aber wir konnen ja nichts daran andern; also ist es das beste, wenn man nichts tut. Wenn ich faul bin, ist das eben mein Karma. - Oder man sagt vielleicht: Es gibt ein Karmagesetz, das sagt, daft wir giinstige Wir- kungen fiir unser spateres Leben erzielen konnen. Da werde ich im spateren Leben anfangen, recht brav zu sein; jetzt will ich erst ein- mal geniefien. Ich habe ja Zeit, ich komme ja spater wieder auf die Erde; da fange ich dann an. - Ein anderer sagt: Ich helfe jetzt keinem Menschen mehr, denn wenn er arm und elend ist und ich helfe ihm, dann greife ich ja in sein Karma ein. Er hat verdient, was er leidet; er mufi selbst dafiir sorgen, dafi sein Karma ein anderes wird. Alle diese Dinge sind die grobsten Mifiverstandnisse. Das Karma- gesetz sagt: Alles, was ich im Leben an guten Taten getan habe, wird seine Wirkung haben, ebenso alles Schlechte, so dafi das wie eine Art Konto gibt im Lebensbuche mit einer Soil- und einer Habenseite. In jedem Moment kann man Bilanz machen. Mache ich nun den Ab- schlufi und ziehe die Bilanz, so ergibt das mein Schicksal. - Das scheint zunachst etwas Starres, Unbewegliches; das ist aber nicht der Fall. Der richtige Vergleich mit dem Kontobuch ergibt folgendes: Jedes neue Geschaft verandert die Bilanz, und jede neue Tat veran- dert das Schicksal. Der Kaufmann kann doch nicht sagen: Durch je- des neue Geschaft store ich meine Bilanz, ich kann also nichts tun. - Ebensowenig wie der Kaufmann durch sein Kontobuch gehindert ist, ein neues Geschaft zu machen, ebensowenig ist der Mensch ge- hindert, ein neues Faktum in sein Lebensbuch einzutragen. Und wenn der Kaufmann in Kalamitat ist und zu seinem Freund sagt: Du, gib mir tausend Mark, damit ich mich aus der schwierigen Lage herausreifie -, und der Freund erwidern wurde: Damit greife ich ja in dein Kontobuch ein -, so ware diese Antwort ein Unsinn. Ebenso ware es ein Unsinn, wenn ich nicht helfen wollte, um nicht mit dem Karmagesetz in Konflikt zu kommen. Nichts hindert den Men- schen, der fest an das Karmagesetz glaubt, allem Elend, aller Not ab- zuhelfen. Im Gegenteil, wenn man nicht daran glauben wurde, mufite man bezweifeln, ob die Hilfe iiberhaupt wirksam wird; so aber weift ich gewifi, dafi die Hilfe richtig wirkt. Darin liegt die trost- reiche, tatkraftige Seite des Karmagesetzes. Man darf nicht so sehr nach der vergangenen Seite des Karmagesetzes sehen als nach der zu- kiinftigen. Man sieht wohl zuriick auf das Geschehene und tragt das Karma, aber vor alien Dingen ruhrt man seine Hande, weil man eine Grundlage legen mufi fur die Zukunft. Von christlichen Geistlichen wird oft der Einwand erhoben: Eure Theosophie ist kein Christentum, denn sie schreibt alles der Selbsterlosung zu. Ihr sagt, der Mensch muS ganz allein sein Karma auswirken. Wenn der Mensch selbst sein Karma auswirken kann, dann bleibt kein Platz fur Christus Jesus, der doch fur die ganze Menschheit litt. Der Theosoph sagt, ich brauche niemand. - Das ist ein Mifiverstandnis auf beiden Seiten. Man bedenkt nicht, dafi der freie Wille nicht beschrankt wird durch das Karmagesetz. Diese Ein- sicht mufi der Theosoph haben, da£ er nicht allein auf Selbsthilfe und Selbstentwickelung baut, wenn er an Karma glaubt, Er mufi wissen, dafi der andere ihm helfen kann; und dann werden wir die echte Vereinigung des Karmagesetzes mit der zentralen Tatsache des Christentums leicht finden. Sie ist immer vorhanden gewesen, diese Ubereinstimmung; die christliche Geheimlehre kennt das Karma- gesetz. Stellen wir uns zwei Menschen vor, der eine ist durch sein Karma im Elend, der andere hilft ihm, weil er die Macht hat zu helfen; jener hat sein Karma verbessert. Wird dadurch das Gesetz aus der Welt geschafft? Im Gegenteil, es bestatigt sich; gerade durch das Gesetz von Karma kann ja die Hilfe wirken. Wenn einer machtiger ist, so kann er zweien helfen oder dreien oder vieren, wenn sie es brauchen; und ist einer noch machtiger, so kann er Hunderten oder Tausenden helfen und ihr Karma im giin- stigen Sinne beeinflussen. Und ist einer so machtig, wie das Chri- stentum sich den Christus Jesus vorstellt, so hilft er in einer Zeit, wo die ganze Menschheit Hilfe braucht, der ganzen Menschheit. Und das Karmagesetz wird dadurch nicht unwirksam, sondern im Ge- genteil: Die Tat des Christus Jesus auf Erden wird gerade dadurch wirksam, dafi man auf Karma bauen kann. Der Erloser weifS, dafi durch Karma das Erlosungswerk auch wirklich alien zuganglich wird. Ja, diese Tat geschah gerade im Bauen auf das Karmagesetz, als eine Ursache fur die zukunftige herr- liche Wirkung, als eine Saat fur die spatere Ernte, als eine Hilfe fur den, der die Segnungen der Erlosung auf sich wirken lalk. Die Tat des Christus Jesus ist iiberhaupt nur denkbar durch das Existieren des Karmagesetzes; gerade das Testament des Christus Jesus ist die Karma- und Reinkarnationslehre. Darin heifk es nicht: Jeder mufi die Folgen seiner Tat tragen -, sondern: Die Folgen der Tat miissen getragen werden, gleichviel von wem. - Wenn der Theosoph be- hauptet, er verstehe die einmalige Tat des Christus Jesus fur die gan- ze Menschheit nicht, so versteht er eben Karma nicht. Ebenso der Priester, der da behauptet, Karma store die Erlosung. Warum das Christentum gerade dieses Gesetz und auch den Reinkarnations- gedanken bisher weniger betont hat, liegt in der Entwickelung der Menschheit begriindet und wird spater noch naher behandelt werden. Die Welt besteht nicht aus einzelnen Ichs, von denen jedes fur sich abgeschlossen dasteht, sondern es herrscht die grofie Einheit, die grofie Verbriiderung in der Welt. Und wie hier im physischen Leben ein Bruder, ein Freund fur den andern einspringen kann, so im weit tieferen Sinne auch in der geistigen Welt. SIEBENTER VORTRAG Stuttgart, 28. August 1906 Heute mochte ich sprechen uber die Wirkungen des Karmagesetzes durch die einzelnen Menschenleben hindurch. Zuvor aber lassen Sie mich bemerken, dafi natiirlich eine jede solche Auseinandersetzung liickenhaft sein mufi, da keine Spekulationen, keine ausgedachten Falle vorgebracht werden, sondern, wie es im Okkultismus eigent- lich immer sein soil, nur Tatsachen, nur Dinge, uber die Erfahrun- gen vorliegen. Es wird also nur gesagt, dieses oder jenes tritt ein, wenn man wirklich einen Menschen beobachtet hat, der in einem solchen Falle war. Einzig und allein aus der Erfahrung heraus wird liber die karmischen Zusammenhange gesprochen werden. Wir haben schon gestern die Tatsache beruhrt, wie am meisten fur den Menschen die brennende Lebensfrage wichtig ist: Wodurch kommt iiberhaupt unser Schicksal zustande, wodurch die verschie- denen Verhaltnisse und Anlagen bei der Geburt? Wenn wir diese karmischen Zusammenhange verstehen wollen, dann miissen wir wiederum Rucksicht nehmen auf das, was wir sag- ten uber die Zusammensetzung des Menschen aus seinen verschiede- nen Leibern: dem physischen Leib, dem Atherleib und dem Astral- leib, und darinnen der Ich-Leib, in dem ja der iibrige, der hohere Teil des Menschen eingeschlossen ist. Bei den karmischen Zusam- menhangen wird uns vorzugsweise die Frage beschaftigen, wie die Ursachen mit Wirkungen in diesen verschiedenen Leibern zusam- menhangen. Betrachten wir zunachst einmal den physischen Leib, soweit er fur das Karmagesetz in Betracht kommt. Alle unsere Tatigkeiten ge- schehen in der physischen Welt; wir miissen am selben Orte mit einem Menschen sein - natiirlich nicht wortlich genommen -, um ihm Freude oder Schmerz zufugen zu konnen. Unser Tun hangt ab von den Bewegungen unseres physischen Korpers und allem, was iiberhaupt von ihm bedingt wird. Mit unseren Taten in diesem phy- sischen Leben hangt unser aufieres Schicksal im spateren Leben zu- sammen. Das aufiere Schicksal ist gleichsam die Umgebung, die Ver- haltnisse, in die wir hineingeboren werden. Wer schlechte Taten verrichtet hat, bereitet sich eine schlechte Umgebung, und umge- kehrt. Das ist das erste wichtige karmische Gesetz: Die Taten in einem vorhergehenden Leben bedingen das aufiere Schicksal. Ein zweites Grundgesetz ergibt sich aus folgendem. Wir wollen einmal einen Blick auf die Entwickelung eines Menschen werfen. Im Laufe des Lebens nimmt der Mensch sehr viele Vorstellungen, Be- griffe, Empfindungen und Erfahrungen auf; er lernt aufterordentlich viel. Dadurch gehen grofie Veranderungen im Menschen vor sich. Denken Sie nur einmal ein paar Jahre zuriick, ehe Sie von Theoso- phie wuiken; wie viele neue Vorstellungen haben Sie seitdem ge- wonnen, wie hat sich das Leben danach verandert! All dieses hat den Astralleib verandert, denn der Astralleib, weil er der diinnste und feinste ist, macht am schnellsten die Veranderungen durch. Viel weniger verandert sich der Mensch nach Temperament, Charakter und Neigungen. Ein jahzorniges Kind zum Beispiel an- dert sich nur sehr langsam. Temperament, Charakter und Neigun- gen erhalten sich oft das ganze Leben hindurch. Rasch geht im Le- ben die Veranderung der Erfahrungen und Vorstellungen vor sich, langsam die Veranderung von Temperament, Charakter und Nei- gungen. Sie sind sehr zah, sie andern sich wohl auch etwas, aber nur aufierordentlich langsam. Sie stehen zu dem, was man lernt, im sel- ben Verhaltnis etwa wie der kleine Zeiger der Uhr zum groften. Das kommt daher, dafi alles dies am Atherleibe hangt, und der verandert sich nur langsam, weil er aus einer viel weniger verwandlungsfahi- gen Materie besteht als der Astralleib. Am langsamsten aber veran- dert sich der physische Leib. Er ist etwas, was sozusagen einmal ver- anlagt ist und so ziemlich mit denselben Dispositionen das ganze Le- ben hindurch bleibt. Wir werden spater sehen, wie der Einzuwei- hende auch seinen physischen Leib andern und wie er auf seinen Atherleib wirken kann. Jetzt miissen wir erst einmal betrachten, wie sich diese Dinge iiber das Leben hinaus erstrecken. Die Vorstellungen, Empfindungen und so weiter eines langen Lebens, die den Astralleib umandern, werden erst im nachsten Leben eine eingreifende Veranderung im Atherleib hervorrufen. Will man daher dafiir sorgen, dafi man im nachsten Leben mit guten Neigungen und Gewohnheiten geboren wird, so mu£ man versuchen, in seinem jetzigen Leben dies moglichst in seinem Astralleib vorzubereiten. Wenn sich also jemand bemiiht, viele gute Taten zu tun, so wird er mit Neigungen zu guten Taten geboren. Das wird eine Eigenschaft des Atherleibes. Wenn jemand zum Beispiel mit gutem Gedachtnis geboren werden will, so mu£ er hier moglichst viel Erinnerungsiibun- gen machen, mufi ofters Riickblicke nehmen auf die einzelnen Jahre seines Lebens und auf das Gesamtleben. Dadurch bildet er im Astral- leib etwas aus, was im nachsten Leben eine Eigenschaft des Atherlei- bes wird: eine gute Gedachtnisanlage. Ein Mensch, der in seinem Leben nur so durch die Welt rast, der wird im nachsten Leben so geboren, dafi er wenig haften kann an einzelnen Dingen der Umge- bung. Wer dagegen viel intim zusammenlebt mit einer bestimmten Umgebung, wird mit einer besonderen Vorliebe fur alles, was eine solche Umgebung gebildet hat, geboren werden. Nun kann man auch die verschiedenen Temperamente so richtig auf das Vorleben zuruckfuhren, denn die Temperamente sind ja Eigenschaften des Atherleibes. Der Choleriker hat einen starken Willen, er ist mutig, kuhn, ta- tendurstig und hat den Drang, viel zu tun. Von weltgeschichtlichen Personlichkeiten waren es zum Beispiel Alexander der Grofie, Han- nibal, Cdsar, Napoleon; das waren Choleriker. Es zeigt sich diese Charakteranlage schon beim Kinde. Ein solches Kind will eine fiihrende Rolle spielen bei seinen Spielkameraden. Der Melancholiker beschaftigt sich viel mit sich selbst; dadurch kommt er leicht dazu, sich abzusondern. Er denkt viel nach, haupt- sachlich dariiber, wie die Umgebung auf ihn wirkt. Er zieht sich gern zuriick, ist leicht mifitrauisch. Das zeigt sich wiederum schon beim Kinde: Es zeigt nicht gern seine Spielsachen, hat Angst, es wiir- de ihm etwas genommen und mochte zu allem gern ein Schliissel- chen haben. Der Phlegmatiker hat fur nichts recht Interesse, er vertraumt viel, ist untatig, faul und sucht den Sinnengenufi. Der Sanguiniker dagegen hat leicht erregbares Interesse fur alles, es halt aber nicht an, es verfliegt leicht und rasch, er wechselt viel und oft seine Liebhabereien. Das sind die vier Grundcharakterziige, die ein Mensch haben kann. Gewohnlich hat der Mensch eine Mischung von alien vier Temperamenten; man kann aber immer mehr oder weniger einen Grundton finden. Diese vier Temperamente driicken sich im Ather- leib aus. Es gibt also vier verschiedene Hauptarten von Atherlei- bern. Diese haben wiederum verschiedene Stromungen und Bewe- gungen, die sich in einer bestimmten Grundfarbe im Astralleib aus- driicken. Das ist nicht etwa vom Astralleib abhangig, es zeigt sich nur darin. Das melancholische Temperament wird karmisch besonders dann hervorgerufen, wenn ein Mensch im vorhergehenden Leben gezwungen war, im kleinsten, engsten Kreise zu leben, viel fur sich allein zu sein, immer nur sich mit sich selbst zu beschaftigen, so daft er kein Interesse fur anderes in sich wecken konnte. Wer dagegen viel kennengelernt hat, wer mit vielen Dingen zusammengekom- men ist und sie nicht bloft angeschaut hat, mit dem das vorige Leben hart umgegangen ist, der wird ein Choleriker. Wenn man ein ange- nehmes Leben ohne viele Kampfe und Muhsale hatte oder auch wenn man viel gesehen hat, an vielem vorbeigekommen ist, es aber nur angesehen hat, so wird man ein Phlegmatiker oder Sanguiniker. Alles, was im Astralleib in diesem Leben geschieht, geht karmisch im nachsten Leben im Grundwesen auf den nachstdichteren Leib, den Atherleib iiber. Daraus kann man ersehen, wie man arbeiten kann fur sein nach- stes Leben, und in den okkulten Schulen wird bewufit in dieser Richtung an dem Menschen gearbeitet. Zwar war das fruher noch mehr der Fall als heute. Das hangt mit den zyklischen Veranderun- gen der Entwickelung zusammen. Vor etwa funftausend Jahren hat- te der Geheimlehrer eine ganz andere Aufgabe. Damals hatte er fur die Menschen mehr als Gruppen zu sorgen; die Menschen waren noch nicht so weit, dafi jeder fur sich zu sorgen hatte. Man arbeitete bewufit daran, daft ganze Kategorien und Gruppen von Menschen im nachsten Leben harmonisch zusammenstimmten. Die Menschen werden aber immer individueller, immer selbstandiger, so dafi der Geheimlehrer heute nicht mehr einen Menschen als Mittel zum Zweck benutzen kann, sondern jeden einzelnen als Zweck behan- deln mufi, jeden einzelnen so weit bringen mufi, als es fur diesen moglich ist. In den altesten Kulturen, zum Beispiel in Indien, wurde die ganze Bevolkerung in vier Kasten geteilt und so an ihnen gear- beitet, dafi die Menschen im nachsten Leben in eine bestimmte Kaste hineinpaiken. Die Ausbildung der Menschen war systematisch darauf eingerichtet, fiir Jahrtausende hinaus zu sorgen, fiir Jahrtau- sende das Weltbild umzumodeln, und gerade das gab den okkulten Fiihrern die grofte Macht. Wie wirkt der Mensch nun auf seinen Atherleib ein im Hinblick auf das nachste Leben? Alles, was der Mensch an seinem Atherleib ausbildet, entwickelt sich, wenn auch sehr langsam, und die Erzie- hung kann dafiir sorgen, ganz bestimmte Gewohnheiten heranzu- ziehen. Das, was im Atherleib im einen Leben vorgeht, kommt im nachsten Leben im physischen Leibe zum Dasein. Alle Neigungen und Gewohnheiten des jetzigen Atherleibes geben im nachsten Le- ben die Disposition zu Gesundheit oder Krankheit. Gute Neigun- gen, gute Gewohnheiten geben die Disposition zur Gesundheit; \ible Neigungen, iible Gewohnheiten erscheinen im nachsten Leben als Disposition zu bestimmten Krankheiten. Der Vorsatz, der feste Wille, sich eine schlechte Gewohnheit abzugewohnen, wirkt schon in den tiefergelegenen Leib hinunter und gibt so die Disposition zur Gesundheit. Besonders gut ist beobachtet worden, wie die Disposi- tion zu Infektionskrankheiten im physischen Leibe auftritt. Nicht, ob man eine Krankheit bekommt - das hangt ja von den Taten ab -, sondern ob man dazu disponiert ist, ob man ihr mehr oder weniger ausgesetzt ist, hangt von den Neigungen des vorhergehenden Lebens ab. Infektionskrankheiten fiihren merkwiirdigerweise zuriick auf einen besonders ausgebildeten egoistischen Erwerbssinn im vorigen Leben. Wenn man sich informieren will liber Gesundheit und Krank- heit, so muE man bedenken, wie viele Dinge da zusammenwirken. Krankheiten brauchen nicht blofi ein Einzelkarma zu sein, es gibt auch ein Volkskarma in bezug auf Krankheiten. Ein interessanter Fall, wie eigentiimlich die Dinge im geistigen Leben zusammenhangen, ist die Einwanderung der Hunnen und der Mongolenstamme, die sich von Asien her nach dem Westen ergos- sen. Diese Volkerschaften, die Mongolen, waren Nachziigler der At- lantier. Wahrend die Inder und Germanen und andere sich weiter auf warts entwickelten, waren die Mongolen die auf einer gewissen Stufe stehengebliebenen Briider. Geradeso wie sich auf der Ent- wickelungsbahn des Menschen die Tiere abgegliedert haben, so glie- dern sich auch niedrigere Volker und Rassen ab. Diese Volkerschaf- ten, die Mongolen, waren zuriickgebliebene Atlantier, die sich phy- sisch hinunterentwickelten. Im Astralleib solcher zuriickgebliebe- ner Menschen sieht man reichliche astralische Verwesungsstoffe. Die Mongolen stiefien auf die Germanen und auf die andern mittel- europaischen Volker, die von Furcht und Schrecken ergriffen wur- den. Furcht und Schrecken sind aber Eigenschaften des Astralleibes; in ihnen gedeihen vorziiglich solche astrale Verwesungsstoffe. So wurden die europaischen Astralleiber infiziert, und diese Infektion kam dann in den spateren Generationen im physischen Leibe her- aus, aber nicht fur das Individuum, sondern fur ganze Volkerschaf- ten. Das war der Aussatz, die Miselsucht, die schreckliche Krank- heit, die im Mittelalter solche Verheerungen anrichtete. Diese Krankheit war die physische Folge des Einflusses auf den Astralleib. Die philologische Forschung konnen Sie hier nicht zu Rate Zie- hen, weil sie von diesen astralischen Einfliissen nichts weift. Aber schon in den Namen konnen Sie Hinweise finden fur die Abstam- mung von der alten atlantischen Rasse: Attila, der Hunnenfuhrer, heilk in der nordischen Sprache Atli, das heifit einer, der von den Atlantiern abstammt. So haben Volkskrankheiten ihre Begriindungen. Im Altertum wufke man noch um solche Dinge, und die Bibel driickte sie durch eine Wahrheit aus, die eben oft mifiverstanden wird: «Der da heimsu- chet der Vater Missetat bis in das dritte und vierte Glied»; denn damit sind nicht die aufeinanderfolgenden individuellen Inkarnatio- nen gemeint, sondern die Generationen, diese Art von Volkskarma. Das ist wortlich zu nehmen, wie uberhaupt viele soldier Ausspriiche wortlicher zu nehmen sind, als man glaubt. Man muS erst die religiosen Urkunden zu lesen verstehen lernen. Da gibt es vier Stufen. Der naive Mensch in alten Zeiten trat ihnen so gegeniiber, dafi er sie wortlich nahm. Das war dann, als die Men- schen gescheit wurden, immer weniger und weniger der Fall. Die klug gewordenen Liberalen, die Freigeister, legten die Urkunden je- der nach seiner Art aus, und so kam es, daft vieles nicht ausgelegt, sondern untergelegt wurde. Dann gibt es noch eine Stufe, die Sym- boliker. Das sind diejenigen, die alles symbolisch auslegen, sowohl die alten Mythen und Sagen wie auch das Leben des Christus Jesus. Natiirlich hangt das alles von der Klugheit des einzelnen ab, denn man kann kluge und weniger kluge Bilder formen. Aber es gibt noch eine vierte Stufe, das ist der Geheimwissende, der nun wieder alles wortlich verstehen kann, weil er durch seine geistige Erkennt- nis die Zusammenhange durchschaut. Aus dem Gesagten ersehen Sie, wie im physischen Leben das her- auskommt, was im geistigen Leben, in Gefuhlen und Gewohnheiten friiher vorhanden war. Man kann daraus einen wichtigen prakti- schen Grundsatz ableiten: Sorgt man in giinstiger Weise fur die Ge- wohnheiten der Menschen, so verbessert man nicht nur in den nach- sten Generationen das sittliche, sondern auch das gesundheitliche Leben eines Volkes, und umgekehrt. Das ist dann Volkskarma. Heutzutage ist eine Krankheit viel verbreitet, die man vor hun- dert Jahren kaum gekannt hat; nicht als ob man sie nicht erkannt hatte, aber sie war wirklich nicht verbreitet: Das ist die Nervositat. Diese eigentiimliche Krankheitsform ist die Folge der materialisti- schen Weltanschauung des 18. Jahrhunderts. Ohne das Vorausgehen dieser materiellen Denkgewohnheiten ware sie nie zustande gekom- men. Der Geheimlehrer weift, da£, wenn der Materialismus noch Jahrzehnte fortdauern wurde, er eine verheerende Wirkung auf die Volksgesundheit haben wiirde. Wurde diesen materiellen Denkge- wohnheiten nicht gesteuert, so wurden spater die Menschen nicht nur gewohnlich nervos sein, sondern die Kinder wurden zitternd ge- boren werden und nicht nur die Umgebung empfinden, sondern an jeder Umgebung eine Schmerzempfindung haben. Vor allem wiir- den die Geisteskrankheiten sich ungeheuer rasch verbreiten: Irr- sinnsepidemien wiirden in den nachsten Jahrzehnten auftreten. Das war auch die Gefahr, welcher die Menschheit zusteuerte: epidemi- sche Geisteskrankheiten. Und dieses Weltbild der Zukunft war die wahre Ursache, weshalb sich die okkulten Fiihrer der Menschheit, die Meister der Weisheit, in die Notwendigkeit versetzt sahen, etwas von der spirituellen Weisheit in die allgemeine Menschheit einflie- fien zu lassen. Nur eine solche spirituelle Weltanschauung kann den kommenden Generationen wieder eine gute Gesundheitsanlage ge- ben. Sie sehen, die Theosophie ist eine tiefe, aus dem Bediirfnis der Menschheit heraus geschopfte Bewegung. Vor einem Jahrhundert noch war ein «nervoser» Mensch einer, der starke Nerven hatte, Nerven wie Stricke. Schon aus der Um- wandlung des Wortsinns kann man ersehen, wie da etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist. Wie steht nun das Karmagesetz zur physischen Vererbung? Die physische Vererbung spielt eine grofie Rolle. Wir wissen, dafi sich im Sohn gewisse Eigenschaften des Vaters und der Voreltern wieder- finden; zum Beispiel gab es in der Familie Bach innerhalb zweihun- dertfiinfzig Jahren achtundzwanzig bedeutende Musiker. Bernoulli war ein bedeutender Mathematiker, und acht bedeutende Mathema- tiker folgten in seiner Familie. Das ist alles Vererbung - sagt man; aber das ist nur zum Teil wahr. Um zum Beispiel ein bedeutender Musiker zu werden, dazu gehort nicht blofi, dafi man in der Seele die musikalischen Anlagen ausgebildet hat, sondern man mufi auch physisch ein entsprechend gutes Ohr haben. Was nun rein physisch ist in der Musikerfamilie, die feinen Gehororgane, das vererbt sich von den Eltern auf das Kind. In einer Familie, in der viel Musik gepflegt wird, gibt es also gute, fur die Musik ausgebildete Ohren. Wenn sich nun eine Seele mit stark ausgebildeten Anlagen fur Musik verkorpert, da ist es ver- standlich, dafi sie nicht in eine Familie hineingeboren wird, wo gar keine Musik getrieben wird - da mtifite sie ja verkummern -, son- dern da hinein, wo geeignete physische Organe vorhanden sind. Es stimmt das ausgezeichnet mit dem Karmagesetz zusammen. Ebenso kann es mit dem moralischen Mut sein. Findet eine Anla- ge dazu nicht das geeignete Blut, so verkommt sie. Sie sehen, man mufi also vorsichtig sein in der Wahl seiner Eltern! Nicht das Kind sieht den Eltern ahnlich, sondern es wird da geboren, wo ihm die Eltern am meisten ahnlich sind. Nun wird gefragt: Wird dadurch nicht die Mutterliebe beein- trachtigt? - Das ist durchaus nicht der Fall. Gerade weil die tiefste Sympathie schon vor der Geburt besteht, geht dieses Kind zu der Mutter hin, so dafS die Liebe ihrem Ursprung nach eigentlich noch weiter zuriickverlegt wird; sie setzt sich nach der Geburt nur fort. Das Kind hat die Mutter schon geliebt vor der Geburt; kein Wun- der, daft nachher die Mutter diese Liebe erwidert. So wird die Mut- terliebe nicht etwa hinweggeleugnet, sondern erst ihren richtigen Ursachen nach erklart. Davon dann morgen mehr. ACHTER VORTRAG Stuttgart, 29. August 1906 Wir fahren weiter fort in der Behandlung karmischer Einzelfragen gegeniiber dem menschlichen Leben. Eine weitere Frage ist: Welche Anschauung hat die Geheimlehre von der Entstehung des Gewissens? - Das Gewissen zeigt sich dem Menschen unserer Kulturstufe als eine Art innerer Stimme, die ihm anzeigt, was er tun oder lassen soli. Wie ist eine solche innere Stimme entstanden? Es ist von Interesse, zu erforschen, ob es denn iiberhaupt in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit immer so etwas gege- ben hat wie das, was man heute Gewissen nennt. Da finden wir, daft es in sehr friihen Volkszustanden kein Wort fur diesen Begriff gege- ben hat. In der griechischen Literatur taucht es erst verhaltnismaftig sehr spat auf, so daft die alteren Griechen das Wort noch nicht in ihrer Sprache hatten. Und ebenso haben andere Volker in den Anfan- gen ihrer Kultur kein Wort dafiir gehabt. Daraus konnen wir schlie- ften, daft in einem mehr oder weniger bewuftten Zustand dieses Ge- wissen erst nach und nach bekanntgeworden ist. So ist es auch. Das Gewissen ist erst entstanden, es hat sich herausgebildet und sogar erst ziemlich spat in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit. Wir werden spater sehen, was unsere Vorfahren anstelle des Gewis- sens hatten. Wie bildete sich nach und nach das Gewissen? Ein Beispiel: Dar- win traf einmal auf seinen Reisen mit einem Menschenfresser zu- sammen und versuchte unter anderm ihm klarzumachen, daft es doch nicht gut sei, einen andern Menschen aufzufressen. Der Wilde aber sagte: Um zu entscheiden, ob es gut oder schlecht sei, einen Menschen zu fressen, musse man ihn doch erst gefressen haben! - Der Wilde hatte Gut und Bose noch nicht nach moralischen Begrif- fen beurteilt, sondern nach der von ihm empfundenen Annehmlich- keit. Er war ein zuriickgebliebener Mensch aus einem alten, alten Kulturzustand, in dem wir alle einmal waren. Wie kam ein Mensch nun zu der Unterscheidung von Gut und Bose? Dadurch, zum Bei- spiel, daft er die Menschenfresserei so lange betrieb, bis er selbst ein- mal in die Lage kam, gefressen zu werden. In diesem Moment mach- te er die Erfahrung, daft ihn dasselbe treffen konnte. Er merkte also durch die Erfahrung, daft da etwas nicht ganz in Ordnung sei, und die Frucht dieser Erfahrung blieb ihm im Kamaloka und Devachan. Bei der nachsten Inkarnation brachte er ein ganz dunkles Gefiihl mit, daft sein Tun nicht stimme, nach weiteren Inkarnationen wur- de dies Gefiihl bestimmter, er achtete auf die Empfindungen ande- rer, und es bildete sich so nach und nach ein gewisses Zuriickhalten aus. Nach verschiedenen weiteren Inkarnationen hatte sich dies dunkle Gefiihl verdichtet und der Gedanke herausgebildet: Das darf man nicht tun. - Ebenso hat ein Wilder im Anfang der Kultur alles ohne Unterschied gegessen; da bekam er Magenschmerzen, und nach und nach machte er die Erfahrung, daft er manches essen konn- te und manches nicht. So verdichtete sich allmahlich die Erfahrung und wurde zur Stimme des Gewissens. Was ist also das Gewissen? Das Ergebnis von Erfahrungen durch die verschiedenen Inkarnationen. Im Grunde ist alles Wissen, das hochste wie das niedrigste, uberhaupt das Ergebnis von Erfah- rungen; es ist auf dem Wege des Probierens, der Erfahrung ent- standen. Eine interessante Tatsache gehort hierher: Erst seit Aristoteles gibt es eine Wissenschaft der Logik, der Lehre vom Denken. Daraus raufi man schliefien, dafi das richtige Denken auch erst entstanden ist. Und so ist es auch. Das Denken mulke sich erst entwickeln, und das richtige Denken, die Logik, ist erst im Laufe der Zeit aufgrund der Beobachtung entstanden, dafS falsches Denken zu Dingen fiihrt, die von Ubel sind. Das Wissen ist etwas, was sich die Menschen in vielen Inkarnationen erworben haben. Nach langem Probieren ge- langte die Menschheit zu einem Schatz des Wissens. Da sieht man die Wichtigkeit des Karmagesetzes; wir haben hier auch etwas, was sich als bleibende Angewohnung und Neigung aus der Erfahrung heraus bildet. Solch eine Neigung wie das Gewissen haftet auch am Atherleib: Indem der Astralleib sich soundso oft iiberzeugt hat, dafi dieses oder jenes nicht geht, bildet sich diese Neigung im Ather- leib als eine bleibende Eigenschaft aus. Ein anderer interessanter karmischer Zusammenhang zeigt sich bei einem gewohnheitsmafiig egoistischen Verhalten oder bei einem liebevollen sympathischen Mitleben mit anderen. Es gibt verhartete Gewohnheitsegoisten - nicht blofi in bezug auf den Erwerbssinn - und es gibt altruistisch liebevoll Mitfuhlende. Beides hangt am Ather- leib und kommt im nachsten Leben im physischen Leib zum Aus- druck. Personen, die in einem Leben gewohnheitsmafiig egoistisch handeln, altern friih im nachsten Leben, schrumpfen friih zusammen; das lange Jung- und Frischbleiben dagegen riihrt von einem liebevol- len, hingebungsvollen vorhergehenden Leben her. Somit kann man auch den physischen Leib bewufk vorbereiten fur das nachste Leben. Nun wird Ihnen eine Frage auf der Seele liegen, wenn Sie sich er- innern, was ich gestern gesagt habe: Wie ist es denn mit den Dingen, die der physische Korper sich selbst erringt? Seine Taten werden sein kiinftiges Schicksal; aber die Krankheiten, die er in diesem Leben durchgemacht hat, was wird daraus? Die Antwort auf diese Frage, so seltsam sie klingen mag, ist keine Spekulation, keine Theorie, sie basiert auf Erfahrungen der Geheim- wissenschaft und lehrt die Mission der Krankheit. Fabre d 'Olivet, der Erforscher der Anfangskapitel der Genesis, hat einmal ein sehr schones Bild gebraucht. Er vergleicht das, was als Schicksal sich her- ausbildet, mit einem Naturvorgang; er sagt: Die wertvolle Perle ent- steht durch eine Krankheit; sie ist ein Exsudat der Perlmuschel, so dafi das Leben in diesem Fall erkranken mufi, um etwas Wertvolles hervorzubringen. - So wie aus einer Erkrankung der Muschel die Perle sich bildet, so kommen die Krankheiten des physischen Kor- pers in einem Leben im nachsten Leben als asthetische Schdnheit wieder zum Vorschein. Entweder wird der eigene Korper durch die Krankheit, die er durchgemacht hat, im nachsten Leben schon an aufSerer Gestalt, oder es wird eine Infektionskrankheit, die er mit seiner Umgebung getragen hat, belohnt durch die Schonheit seiner Umgebung. Schonheit entwickelt sich also karmisch aus Leiden, Schmerzen, Entbehrungen und Krankheiten. Das ist ein frappieren- der Zusammenhang, aber er besteht tatsachlich. Sogar der Schon- heitssinn wird auf diese Weise herausgebildet. Kein Schones ist in der Welt ohne Leiden und Schmerzen und Krankheiten. Ganz Ahn- liches tritt uns in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit im allgemeinen entgegen. Sie werden daraus ersehen, wie wunderbar eigentlich die karmischen Zusammenhange im Leben sind und wie die Fragen nach dem Bosen, nach Krankheit und Schmerz gar nicht zu beantworten sind, ohne die grofien inneren Zusammenhange der Menschheitsentwickelung zu kennen. Die Evolutionslinie geht zuriick in ganz alte, alte Zeiten. Da wa- ren noch ganz andere Verhaltnisse, die Erde war eine ganz andere. Die hoheren Tiere waren noch nicht vorhanden. Es gab eine Zeit, wo iiberhaupt noch keine Fische, Amphibien, V6gel, Saugetiere be- standen, nur Tiere, die niedriger sind als die Fische. Der Mensch war da, jedoch in ganz anderer Gestalt. Sein physischer Leib war noch sehr unvollkommen; hoher war der geistige Leib. Er war noch in ei- nem weichen, atherischen Leib, und die Seele arbeitete selbst von au- fien an diesem physischen Leib. Der Mensch hatte noch alle anderen Wesen in sich. Nachher entwickelte sich der Mensch hoher hinauf und lieft die Fischform zuriick, die er in sich hatte. Das waren mach- tige, phantastisch aussehende Geschopfe, unahnlich unseren heuti- gen Fischen. Wieder entwickelte sich der Mensch hoher hinauf und sonderte die Vogel aus sich heraus. Dann gingen die Reptilien und Amphibien aus dem Menschen heraus, groteske Wesen wie die Sau- rier, Fischeidechsen, die eigentlich nur Nachziigler der fruher zu- riickgebliebenen, noch menschenunahnlicheren Wesen waren. Dann noch spater setzte der Mensch die Saugetiere heraus. Zuletzt stiefi er die Affen ab und ging selbst hoher hinauf. Der Mensch war also von Anfang an Mensch, nicht Affe, und sonderte das ganze Tierreich aus sich heraus, um selbst vollkomme- ner zu werden; gleichsam wie wenn man aus einer mit Farbe ge- mischten Fliissigkeit die Farbstoffe nach und nach heraussondert und das klare Wasser zuriickbehalt. Alte Naturforscher, wie Paracel- sus und Oken, haben dies in schoner Weise ausgesprochen: Wenn der Mensch hinaussieht auf die Tierwelt, raufi er sich sagen: Das habe ich selbst in mir getragen und abgesondert aus meinem Wesen. So hatte der Mensch in sich, was er spater aufier sich hatte. Und so hat der Mensch auch heute noch etwas in sich, was er spater au- Eer sich haben wird, namlich sein Karma, die beiden Posten Gut und Bose. So wahr es ist, daft der Mensch das Tiergeschlecbt aus sich herausgesetzt hat, ebenso wahr ist es, daft er das Bose und das Gute in die Welt hinaussetzen wird. Das Gute wird eine von Natur gute Menschenrasse ergeben, das Bose eine abgesonderte bose Menschen- rasse. Das steht auch in der Apokalypse; das darf nur nicht miftver- standen werden. Nun mufi man aber auch unterscheiden zwischen Seelenentwickelung und Rassenentwickelung. Eine Seele kann in- karniert sein in einer Rasse, die herunterkommt; aber wenn diese Seele sich nicht selbst bose macht, braucht sie sich nicht wieder in einer zuriicksinkenden Rasse zu inkarnieren; sie verkorpert sich wieder in einer hohersteigenden Rasse. Fur die heruntersteigenden Rassen stromen von anderen Seiten Seelen genug zur Inkarnation herbei. Aber was innen ist, mufi nach auften, und der Mensch wird im- mer hoher steigen, wenn sein Karma sich ausgewirkt hat. Damit hangt etwas aufterordentlich Interessantes zusammen. Im Hinblick auf diese Entwickelung der Menschheit sind namlich schon vor Jahrhunderten Geheimorden gegriindet worden, die sich die denk- bar hochsten Aufgaben gestellt haben. Ein solcher Orden ist der Ma- nichaerorden. Die Wissenschaft weift nichts Rechtes iiber ihn. Man meint, die Manichaer flatten die Lehre aufgestellt, daft es von Natur aus ein Gutes und ein Boses gabe, die miteinander im Kampfe liegen; das sei so von der Schopfung her bestimmt gewesen. Das ist ein zum Unsinn verzerrter Schimmer der wirklichen Aufgabe dieses Ordens. Die einzelnen Glieder dieses Ordens werden in ganz besonderer Weise fur ihre grofte Aufgabe erzogen. Dieser Orden weift, daft es Menschen geben wird, die im Karma kein Boses mehr haben wer- den, und daft es auch eine von Natur aus bose Rasse geben wird, bei der alles Bose noch in hoherem Grade vorhanden sein wird als bei den wildesten Tieren, denn sie werden Boses tun bewuftt, raffiniert, mit einem hochausgebildeten Verstande. Der Manichaerorden be- lehrt nun jetzt schon seine Mitglieder in solcher Weise, dafi sie das Bose nicht nur bekampfen, sondern fahig werden, es zum Guten umzuwandeln in spateren Inkarnationen. Das ungeheuer Schwierige dieser Aufgabe liegt darin, dafi in jenen bosen Menschenrassen nicht etwa wie bei einem bosen Kinde neben dem Bosen noch Gutes ist, das sich durch Beispiel und Lehre hoher entwickeln lafit. Jene von Natur aus ganz Bosen radikal umzugestalten, das lernt das Mitglied des Manichaerordens heute schon. Und dieses dann umgeschmolze- ne Bose wird nach gelungener Arbeit ein ganz besonders Gutes. Ein Zustand der Heiligkeit wird der allgemeine sittliche Zustand auf Er- den sein, und die Kraft der Umwandlung wird den Zustand der Hei- ligkeit bewirken. Aber das kann nicht anders erzielt werden, als wenn erst dieses Bose sich bildet; und in der Kraft nun, die ange- wandt werden mufi, um dieses Bose zu uberwinden, entwickelt sich die Kraft zur hochsten Heiligkeit. Der Acker mufi gediingt werden mit dem ekelerregenden Diinger, der Diinger mu£ zuerst gleichsam in den Acker hineinwachsen als Ferment. So braucht die Mensch- heit den Diinger des Bosen, um den Zustand der hochsten Heiligkeit zu erreichen. Das ist die Mission des Bosen. Stark wird der Mensch, wenn er seine Muskeln anstrengen mufi; ebenso mufi das Gute, wenn es sich zur Heiligkeit steigern soli, erst das ihm entgegenge- setzte Bose uberwinden. Das Bose hat die Aufgabe, die Menschheit hoher zu bringen. Solche Dinge lassen uns hineinschauen in das Geheimnis des Lebens. Spater dann, wenn der Mensch das Bose uberwunden hat, kann er darangehen, die heruntergestofienen Geschopfe, auf deren Kosten er sich entwickelt hat, zu erlosen. Das ist der Sinn der Entwickelung. Etwas noch Schwierigeres ist das Folgende. Ein Schneckenhaus, eine Muschelschale sind abgesondert aus der lebendigen Substanz des Tieres selbst. Was als Haus die Schnecke umgibt, war urspriing- lich in ihr; es ist ihr eigener Leib in verdichteter Form. Die Theoso- phie sagt: Wir sind eine Einheit mit allem, was uns umgibt. - Das ist so zu verstehen, daf5 der Mensch einst alles in sich gehabt hat. In der Tat ist die Erdkruste entstanden dadurch, daft der Mensch sie einst auskristallisiert hat; und wie die Schnecke ihr Haus, so hat der Mensch auch alle anderen Wesen und Reiche, Mineral-, Pflanzen- und Tier- reich, in sich gehabt und kann zu alien sagen: Die Substanzen waren in mir, ich habe die Bestandteile herauskristallisiert. - So blickt er nun auf etwas aufier sich selbst, und jetzt bekommt es einen greifbaren Sinn, wenn er, indem er sie schaut, sagt: Das alles bin ich selbst. Noch sub tiler ist eine zweite Idee. Stellen Sie sich jenen alten Menschheitszustand vor, in dem noch nichts aus dem Menschen herausgesondert war. Der Mensch war da und hatte auch Vorstel- lungen; aber er hatte sie nicht objektiv dadurch, dafi die aufieren Dinge einen Eindruck machten, sondern rein subjektiv. Alles kam aus ihm selbst heraus. Der Traum ist noch ein Erbstiick aus jener Zeit, wo der Mensch die ganze Welt gleichsam aus sich herausge- sponnen hat. Dann setzte er die Welt sich selbst entgegen. Wir ha- ben die Dinge selbst gemacht und schauen unsere eigenen Produkte, unser eigenes, festgewordenes Wesen in den anderen Geschopfen. Kant spricht von etwas, was der Mensch nicht erkennen konne, von einem «Ding an sich». Aber so etwas gibt es nicht. Es gibt keine Grenzen des Erkennens, denn der Mensch findet in allem, was er um sich herum sieht, die zuriickgelassenen Spuren seiner eigenen Wesenheit. Alles das wurde gesagt, um Ihnen zu zeigen, dafi man, wenn man nur eine Seite der Dinge betrachtet, niemals zu einem wirklichen Verstandnis kommen kann. Man mufi sich klar dariiber sein, dafi alles, was uns in einem gewissen Zustande erscheint, in fruheren Zeiten ganz anders war, und nur, wenn man die Gegenwart und die Vergangenheit miteinander vergleicht, kommt man da zu einem Verstandnis. Und so auch, wenn man nur die sinnliche Welt be- trachtet: Niemals wird man verstehen, warum es iiberhaupt Krank- heit gibt oder was die Mission des Bosen ist, wenn man sich auf die sinnliche Betrachtung beschrankt. Alle solchen Zusammenhange ha- ben einen tiefen Sinn. Diese ganze Entwickelung durch Abspaltung, die ich Ihnen geschildert habe, hat sich vollzogen, weil der Mensch ein innerliches Wesen werden sollte; er mufke das alles aus sich her- aussetzen, um sich selbst schauen zu konnen. So verstehen wir die Mission der Krankheit, die Mission des Bosen und die Mission der Auftenwelt. Das sind grofte Zusammenhange, wie sie die Betrach- tung des Karmagesetzes ergibt. Wir wollen nun noch einige karmische Einzelfragen behandeln, die haufig gestellt werden. Welches ist der karmische Zusammenhang, daft viele Menschen schon so jung sterben, zum Beispiel schon als Kinder? Falle, die der Geheimwissenschaft bekannt sind, lehren das Folgende. Man konnte zum Beispiel ein Kind, das friih gestorben ist, in Beziehung auf sein voriges Leben untersuchen, und da zeigte sich, daft es in seinem fruheren Leben recht gut veranlagt war und diese Anlagen auch gut benutzt hatte. Es war ein recht fahiges Mit- glied der menschlichen Gesellschaft geworden, aber es war etwas schwachsichtig. Durch diese schwachen Augen und das weniger ge- naue Ansehen-Konnen bekamen alle seine Erfahrungen einen beson- deren Anstrich. Es fehlte dadurch uberall an einer Kleinigkeit, um die es hatte besser sein konnen; der Mensch blieb immer etwas zuriick wegen der schwachen Augen. Er hatte ganz Aufterordentliches leisten konnen, wenn er gute Sehorgane gehabt hatte. Er starb und wurde dann ganz kurze Zeit danach wieder inkarniert mit gesunden Augen, lebte aber nur wenige Wochen. Dadurch aber hatten die Wesens- glieder erfahren, wie man gesunde Augen bekommt, und der Mensch hatte ein Stiickchen Leben bekommen, um zu erwerben, was ihm noch gefehlt hatte, gleichsam eine Korrektur des vorhergehenden Lebens. Der Schmerz der Eltern wird naturlich karmisch ausge- glichen, aber sie muftten das Werkzeug fur diese Korrektur sein. Was ist der karmische Zusammenhang bei totgeborenen Kin- dern? Dariiber laftt sich schwer sprechen. In einzelnen Fallen, die okkult untersucht wurden, hatte sich der Astralleib schon mit dem physischen Leib verbunden, zog sich dann aber wieder zuriick, so daft der physische Leib tot zur Welt kam. Warum aber zieht sich der Astralleib zuriick? Das hangt so zusammen: Gewisse Glieder der hoheren Menschennatur hangen mit gewissen physischen Organen zusammen. Kein Wesen zum Beispiel kann ohne Zellen einen Atherleib haben. Der Stein hat keinen Atherleib, weil er keine Gefa- fie oder Zellen hat wie die Pflanze. Ebenso ist der Astralleib an ein Nervensystem gebunden. Die Pflanze hat keinen Astralleib, eben weil sie kein Nervensystem hat. Sobald eine Pflanze von einem Astralleib durchzogen wiirde, konnte sie nicht mehr physisch wie eine Pflanze aussehen, sie miifite mit einem Nervensystem versehen sein, wie der Stein mit Zellen begabt wiirde, wenn er von einem Atherleib durchzogen wiirde. Soli nun der Ich-Leib nach und nach Platz greifen, dann mul5 in- nerhalb des physischen Korpers warmes rotes Blut vorhanden sein. Alle Tiere, die rotes Blut haben, sind in einer Zeit aus dem Men- schen herausgesondert worden, in der sich fur den Menschen der Ich-Zustand vorbereitet hat. Daraus erkennen wir, dafi die physi- schen Organe in Ordnung sein miissen, wenn die hoheren Leiber Wohnsitz in ihnen nehmen sollen. Wichtig ist nun, zu beriicksichti- gen, dafi der physische Korper ausgestaltet wird in seiner Form durch rein physische Vererbung. Nun kann die Zusammensetzung der Safte eine unrichtige sein, wahrend die Eltern sonst geistig und seelisch gut zueinander passen. Dann kommt kein ordentlicher phy- sischer Leib zustande; da bekommt der Menschenkeim einen physi- schen Leib, in dem die hoheren Leiber ihren Wohnsitz nicht errich- ten konnen. Zum Beispiel der Atherleib verbindet sich mit dem physischen Leib, nun soli sich der Astralleib des physischen Leibes bemachtigen. Da findet er kein geeignetes Werkzeug, kein ordentli- cher Organismus steht ihm zur Verfiigung, und der Astralleib mufi sich wieder zuriickziehen. So bleibt der physische Leib zuriick, der dann tot geboren wird. Mithin wird eine Totgeburt bewirkt durch eine physisch schlechte Saftemischung, die kein geeignetes Werk- zeug fur den geistig-seelischen Menschenkeim geliefert hat. Der phy- sische Leib gedeiht nur soweit, als hohere Wesensglieder in ihm wohnen konnen. Sie sehen, wie man ins einzelne gehen mufi beim Studium karmischer Zusammenhange. Wie kommen nun karmische Ausgleiche zustande? Wenn jemand einer anderen Person etwas zugefiigt hat, so raufi das zwischen ihnen karmisch wieder ausgeglichen werden. Dazu aber miissen die betref- fenden Personen gleichzeitig verkorpert sein. Wie geschieht das? Was bringt die Menschen zusammen, welche Krafte bewirken das? Die Technik des Karma ist folgende: Das Bose, das ich einem Menschen angetan habe, ist geschehen, dadurch hat er gelitten. Nun sterbe ich, gehe ins Kamaloka. Zunachst unmittelbar nach dem Tode mu$ ich es im Erinnerungstableau sehen; das schmerzt nicht. Dann lebe ich mein Leben zuriick. Komme ich in der Kamalokazeit wieder an den Punkt, da mufi ich in den ausgehaltenen Schmerz des anderen Men- schen nun selbst erleiden. Da kommt also der Gefuhlsinhalt hinzu; der pragt sich wie ein Stempel in den Astralleib ein. Ich nehme etwas von diesem Schmerz als Ausbeute ins Devachan mit, es bleibt davon eine Kraft in mir als Ergebnis dessen, was ich an dem anderen Men- schen erlebt habe. Ich mull in des anderen Menschen Schmerz oder auch Freude hineinschlupfen, die er durchleben mufite; das zieht gewisse Krafte in den Astralleib, so daft ich eine grofie Menge von Kraften mitnehme ins Devachan. Komme ich nun zuriick zu einer neuen Verkorperung, so ziehen mich diese Krafte wieder zu dem betreffenden Menschen hin, zum Ausgleich des Karmas. So werden alle Menschen zusammengefuhrt, die einmal etwas miteinander erlebt haben; sie haben wahrend der Kamalokazeit sich diese Krafte einverleibt. Selbstverstandlich konnen in einem physisch verkorperten Men- schen auch Kamaloka-Erlebnisse mit mehreren Menschen sein, um ihr Karma auszugleichen. Ein Beispiel soil uns auch das klarmachen. Ein in der Geheimwissenschaft bekannter Fall sagt folgendes: Ein Mensch wurde von funf Richtern zum Tode verurteilt. Was war da geschehen? Dieser eine hatte im vorigen Leben eben diese funf geto- tet, und die karmischen Krafte hatten diese sechs Menschen zusam- mengefuhrt zum karmischen Ausgleich. Daraus entsteht nun aber nicht etwa eine nie endende karmische Kette, sondern andere karmische Beziehungen andern den wekeren Verlauf. Sie sehen, geheimnisvoll arbeiten die geistigen Krafte, um das komplizierte Menschengebilde zustande zu bringen. Manche wichti- ge, grofie Gesichtspunkte werden uns noch klar werden, wenn wir in den nachsten Tagen die ganze Entwickelung der Erde und des Menschen betrachten werden. NEUNTER VORTRAG Stuttgart, 30. August 1906 Wenn wir uns fragen: Wie hat der Mensch sich seit den uraltesten Zeiten bis heute gebildet, wie ist seit Urzeiten der Mensch entstan- den? - dann werden wir uns vor allem an das erinnern miissen, was wir iiber die Wesenheit des Menschen ausgefiihrt haben. Der Mensch hat sieben Glieder: das erste, der physische Leib, ist sozusa- gen das untergeordnetste Glied, hoher und feiner ist dann schon der Atherleib, noch hoher und feiner ist der Astralleib, von dem Ich- Leib sind erst die Anlagen vorhanden. Es ware aber falsch, daraus den Schlufi zu ziehen, dafi man den hochsten Leib, den der Mensch heute hat, auch den vollkommensten nennen konnte und dafi der physische Leib der unvollkommenste ware. Es ist gerade das Gegen- teil der Fall, der physische Leib ist das vollkommenste Glied der menschlichen Wesenheit. Spater einmal werden freilich die hoheren Glieder in viel hoherem Mafie vollkommen sein, aber heute ist in seiner Art der physische Leib der am hochsten entwickelte. Er ist mit unbeschreiblicher Weisheit aufgebaut. Ich habe Ihnen einmal als Beispiel den Bau des Oberschenkelknochens beschrieben. Jeder ein- zelne Knochen ist mit seinem kunstvoll gefugten Gebalk in seiner weisen Anordnung so, wie kein Ingenieur heute das Problem losen konnte, mit der kleinsten Masse die grofite Leistung zu erzielen. Und je tiefer man eindringt in den Wunderbau der menschlichen Gestalt, desto bewunderungswiirdiger erscheint uns der Aufbau, zum Beispiel der Wunderbau des Gehirns, des Herzens. Das Herz macht keinen Fehler, aber der menschliche Astralleib begeht viele Fehler. Die Triebe und Leidenschaften des Astralleibes sturmen auf den physischen Leib ein und uberwaltigen ihn. Wenn der Mensch unrichtige Nahrung zu sich nimmt, folgt er wiederum dem Astral- leib. Das physische Herz halt den Blutlauf in Ordnung, aber der Astralleib macht unaufhorlich Attacken auf das Herz, weil seine Triebe begehren, was dem Herzen schadet. Kaffee, Tee, Alkohol sind Giftstoffe fur das Herz, sie werden ihm oft taglich zugefuhrt, und das Herz halt dennoch stand. Es ist so dauerhaft konstruiert, daft es siebzig, achtzig Jahre alien Stiirmen des Astralleibes trotzt. In der Stufenlage der Leiber ist also der physische Leib der voll- kommenste bis in alle Einzelheiten hinein. Weniger vollkommen ist der Atherleib, noch weiter zuriick in seiner Entwickelung ist der Astralleib, und am wenigsten entwickelt ist der Ich-Leib. Woher kommt das? Das kommt daher, daft der physische Leib die langste Entwickelung durchgemacht hat. Er ist das alteste Glied der menschlichen Wesenheit. Weniger alt ist der Atherleib, noch jiinger ist der Astralleib, und am jungsten ist der Ich-Leib. Um diese Entwickelung der Leiber zu verstehen, mufi man wis- sen, dafi nicht nur der Mensch wiederholte Verkorperungen durch- macht, sondern dafi das Gesetz der Reinkarnation ein allgemeines Weltgesetz ist. Nicht nur der Mensch macht also fortwahrend Ver- korperungen durch, sondern alle Wesen und alle Planeten sind die- sem Gesetze unterworfen. Unsere ganze Erde mit allem, was darauf ist, hat friihere Inkarnationen durchgemacht, von denen uns zu- nachst drei besonders beschaftigen sollen. Bevor die Erde zu diesem Planeten geworden ist, war sie ein an- derer. Vor uralten Zeiten war unsere Erde ein Planet, den die Ge- heimwissenschaft Saturn nennt. Vier sich folgende Verkorperungen sind: Saturn, Sonne, Mond, Erde. Wie zwischen zwei menschlichen Verkorperungen eine Kamaloka- und Devachanzeit liegt, so liegt zwischen je zwei planetarischen Verkorperungen der Erde eine Zeit, in der dieselbe nicht sichtbar ist und kein aufieres Leben fuhrt. Diese Zeit zwischen den Verkorperungen unseres Planeten nannte man das Pralaya, und die Zeit, in der er verkorpert ist, Manvantara. Mit den Namen Saturn, Sonne, Mond sind aber nicht die Himmelskorper gemeint, die heute so genannt werden. Das, was hier Sonne genannt wird, ist nicht unsere heutige Sonne. Unsere heutige Sonne ist ein Fixstern, und im Laufe ihrer Verkorperungen hat sie sich aus der Substanz und Wesenheit eines Planeten zu dem Range eines Fix- sterns heraufgearbeitet; die alte Sonne war ein Planet. Ebenso ist das, was der alte Mond genannt wird, nicht der heutige Mond; es war die dritte Verkorperungsstufe der Erde, und so ist es auch mit dem Saturn, er war die erste Entwickelungsstufe der Erde. Auf dem Planeten Saturn war der Mensch schon vorhanden. Der Saturn leuchtete nicht, aber mit devachanischem Horen hatte man ihn horen konnen; er tonte. Nachdem er eine Zeitlang dagewesen war, verschwand er nach und nach, wurde eine lange Zeit unsicht- bar und leuchtete dann wieder hervor als Sonne. Diese machte dann denselben Prozefi durch und kam als Mond wieder hervor. Zuletzt kam in gleicher Weise die Erde. Man darf sich aber diese vier Planeten, Saturn, Sonne, Mond, Er- de, nicht als vier voneinander getrennte Planeten vorstellen; das wa- re ganz falsch. Es sind vier Erscheinungszustande eines und dessel- ben Planeten. Es sind richtige Metamorphosen des einen Planeten, und alle Wesen auf demselben metamorphosieren sich mit ihm. Der Mensch war nie auf einem anderen Planeten, aber die Erde war in verschiedenen Zustanden da. Als unsere Erde Saturn war, gab es nur die allerersten Keime zu unserem Menschenreich. Was heute als menschlicher Leib so kunst- voll aufgebaut ist, war auf dem Saturn nur Anlage, nichts weiter als allererste Anlage. Es gab kein Mineral, keine Pflanzen, kein Tier. Der Mensch ist der Erstling unserer Schopfung. Aber der Saturn- mensch war wesentlich anders als der heutige Mensch. Er war zum grofien Teil ein geistiges Wesen. Man hatte ihn noch nicht mit phy- sischen Augen sehen konnen. Es gab auch noch keine physischen Augen. Nur ein Wesen mit devachanischem Schauen hatte diesen Menschen wahrnehmen konnen. Dieses menschliche Gebilde war wie eine Art aurisches Ei und darin ein merkwtirdiges schaliges Ge- bilde in Form einer kleinen Birne, wie zusammengefiigte Austern- schalen, eine Art von Wirbeln. Der Saturn war ganz durchsetzt von solchen Anfangen physischer Gebilde; es waren gleichsam Aus- schwitzungen, die sich aus dem Geistigen verdichteten. Aus diesen Gebilden, die man nur als ganz leise Andeutungen des Spateren hat- te ansehen konnen, hat sich im Laufe der Entwickelung der physi- sche Leib des Menschen gebildet. Es war eine Art Urmineral, um das sich noch nicht ein Atherleib gebildet hatte. Darum kann man sagen: Der Mensch ging durch das Mineralreich hindurch. Doch war das nicht unser heutiges Mineralreich, so zu denken ware ganz unrichtig. AufSer diesem Menschenreich gab es iiberhaupt kein an- deres Reich auf dem Saturn. Wie nun der Mensch gewisse Lebensstadien durchmacht, als Kind, Jiingling, Jungfrau, Mann, Frau, Greis, Greisin, so macht auch ein Planet Lebensstadien durch. Ehe der Saturn die in ihm ab- gelagerten Flocken zeigte, war er ein Arupa-Devachangebilde, dann ein Rupa-Devachangebilde, nachher ein Astralgebilde. Hierauf ver- schwinden nach und nach die Flocken, und der Saturn geht diese Stufen wieder zuriick ins Dunkel des Pralaya. Solch eine Metamor- phose vom Geistigen ins Physische und wieder zuriick nennt man in der theosophischen Literatur eine «Runde» oder einen «Lebenszu- stand». Jede Runde zerfallt wieder in sieben Unterabteilungen: Aru- pa, Rupa, Astral, Physisch, dann wieder Astral, Rupa, Arupa; diese hat man mit Unrecht «Globen» genannt: Es sind Formzustande. Man hat es aber nicht mit sieben aufeinanderfolgenden Kugeln zu tun, es ist immer derselbe Planet, der sich verwandelt, und die Wesen machen die Verwandlungen mit durch. Der Saturn hat sieben solcher Runden oder Lebenszustande durchgemacht. In jeder Runde wird das Gebilde vervollkommnet, so dafi es erst in der siebenten Runde in seiner Art vollkommen ist. In jeder Runde werden sieben Verwandlungen bezie- hungsweise Formzustande durchgemacht, mithin hatte der Saturn sieben mal sieben, also neunundvierzig Metamorphosen. Das hat der Saturn durchgemacht, ebenso die Sonne, der Mond, und die Erde macht dasselbe durch, und dann folgen in der Zukunft noch drei andere Planeten: Jupiter, Venus und Vulkan. Es sind also sieben Planeten mit je sieben mal sieben Zustanden, also geheimwissenschaftlich geschrieben 777. In der Geheimschrift bedeutet die Sieben an der Einerstelle die Globen, an der Zehnerstel- le die Runden, an der Hunderterstelle die Planeten. Diese Zahlen mussen miteinander multipliziert werden. Mithin hat unser Plane- tensystem 7 mal 7 mal 7 oder 343 Verwandlungen durchzumachen. In der «Geheimlehre» von H. P. B. finden wir eine merkwiirdige Stelle. Die «Geheimlehre» ist zu einem grofien Teil des Inhalts von einer der hochsten geistigen Individualitaten inspiriert worden. Aber die grofien Eingeweihten haben sich immer sehr vorsichtig ausgedriickt, sie haben nur angedeutet. Vor alien Dingen lassen sie die Menschen selbst immer etwas arbeiten. So ist diese Stelle voller Ratsel; H. P. B. wufite das. Der Lehrer sagte nichts von aufeinander- folgenden Inkarnationen, er sagte nur: Lernt das Ratsel von 777 In- karnationen zu losen. - Er wollte, dafi man lernen sollte, dafi dies 343 sind. In der «Geheimlehre» steht zwar die Aufgabe, aber nicht die Losung; die ist erst in jiingster Zeit gefunden worden. Der erste Keimzustand des Menschen war also auf dem in urfer- ner Zeit sich entwickelnden Saturn. Dieser verschwand dann ins Pralaya und trat aus demselben wieder hervor als Sonne, und mit ihr trat aus dem Dunkel des Pralaya auch der Mensch wieder hervor, der alte Bewohner des Weltalls. Aber mittlerweile hatte der Mensch die Kraft bekommen, etwas aus sich herauszusondern, wie die Schnecke ihr Haus. Er konnte schalenformige Gebilde herausson- dern als schwebende Gestalten und behielt die feineren Stoffe in sich zuriick, um sich hoher zu entwickeln. So bildete der Mensch das Mi- neralreich aus sich heraus; aber diese Mineralien waren eine Art le- bender Mineralien. Der Mensch entwickelte sich nun auf der Sonne so, dafi der Atherleib hinzutrat, wie bei den heutigen Pflanzen. Er machte also auf der Sonne das Pflanzenreich durch, und wir haben nun auf der Sonne zwei Reiche, das Mineralreich und das Pflanzen- reich; das letztere war der Mensch. Aber diese Pflanzenformen waren ganz verschieden von unseren heutigen. Wer in die tieferen Beziehungen eindringt, betrachtet die Pflanze als einen umgekehrten Menschen. Sie hat unten die Wurzel, dann nach oben den Stengel, Blatter, Blute, Staubgefafie und Stempel; die Stempel enthalten die weiblichen, die Staubgefafie die mannlichen Befruchtungsorgane. In naiver Unschuld streckt die Pflanze die Be- fruchtungsorgane der Sonne entgegen, denn die Sonne ist die Anre- gung der Befruchtungskraft. Die Wurzel ist in Wahrheit das Haupt der Pflanze, welche die Befruchtungsorgane in den Weltenraum hin- ausstreckt und deren Kopf von dem Innern des Erdzentrums ange- zogen wird. Der Mensch ist umgekehrt, er hat das Haupt oben und die Organe, die die Pflanze zur Sonne hinaufstreckt, unten. Das Tier stent in der Mitte, es hat den Leib horizontal. Wird die Pflanze halb gedreht, so ergibt sich die Stellung des Tieres, wird sie ganz um- gedreht, die des Menschen. Das hat die alte Geheimwissenschaft in einem uralten Symbol ausgedriickt, im Kreuz, und hat gesagt, wie Plato es nach den alten Mysterien ausdriickt: Die Weltenseele ist ans Kreuz des Weltenlei- bes geschlagen. - Das heilk, die Weltenseele ist in allem enthalten, aber sie mu!5 sich hinaufarbeiten durch diese drei Stufen hindurch; sie macht ihre Reise am Kreuz des Weltenleibes durch. Auf der Sonne war der Mensch als Pflanzenwesen, also genau umgekehrt wie der heutige Mensch. Er lebte ja in der Sonne, er ge- horte zum Leib der Sonne. Die Sonne war ein Lichtkorper, sie be- stand aus Lichtather; der Mensch war noch Pflanze und mit seinem Kopfe zum Mittelpunkt der Sonne gerichtet. Als dann spater die Sonne heraustrat, mufite die Menschenpflanze sich umdrehen, sie blieb der Sonne treu. In der ersten Runde ist die Sonne nur eine Wiederholung der Sa- turnzeit; erst bei der zweiten Runde beginnt die weitere Entwicke- lung des Menschen. Als die Sonne sich dann in den sieben Runden so weit entwickelt hatte, wie sie konnte, verschwand sie im Dunkel des Pralaya und kam erst wieder hervor als Mond. Die erste Mondenrunde war wiederum nur eine Wiederholung des Saturndaseins in etwas anderer Gestalt. Die zweite Mondenrun- de brachte auch noch nichts Neues, sie war eine Wiederholung des Lebens auf der Sonne. In der dritten Mondenrunde erst kam etwas Neues hinzu: Der Mensch bekam den Astralleib zu seinen zwei frii- heren Leibern. Da ist er in seiner aufieren Gestalt dem Tier von heu- te zu vergleichen: Er hat drei Leiber. Damals ist er angekommen auf der Stufe des Tierreiches. Der Mensch erhob sich zum Pflanzenreich durch AbstoEung des Mineralreiches, er erhebt sich nun zum Tier- reich durch Abstofiung des Pflanzenreichs. So stehen nun zwei Reiche neben ihm. Dann stofk er wieder einen kleineren Teil von sich ab, sondert ihn von sich aus und geht hoher hinauf. In dieser dritten Mondenrunde geht nun auch ein wichtiger kos- mischer Prozefi vor sich: Sonne und Mond trennen sich. Es entste- hen zwei Korper; der Mond spaltet sich von der Sonne ab. Im An- fang der zweiten Mondenrunde ist die Sonne noch unverandert, dann zeigt sich eine kleine Einschniirung unten an dem Sonnenkor- per, er schniirt sich ab, und in der dritten Mondenrunde sind zwei Korper nebeneinander. Die Sonne hat die edleren Teile behalten, sie schickt von au$en ihre Strahlen auf den Mond und gibt ihm und alien Wesen darauf das Notige. Das ist das Avancement der Sonne, sie ist jetzt Fixstern geworden, und sie beschaftigt sich nicht mehr selbst mit den drei Reichen, sondern gibt nur ab, was sie zu geben hat. Sie beherbergt hohere Wesen, die sich jetzt entwickeln konnen, nachdem die Son- ne die niederen Teile ausgesondert hat. In der vierten Mondenrunde vervollkommnet sich das alles, und in der fiinften gehen dann die zwei Korper wieder ineinander uber und verschwinden darauf als Eines im Pralaya. Der alte Mond hatte noch keine feste Erdkruste, auf der man her- umgehen konnte, wie auf den Felsen unserer Erde. Das Mineral- reich war damals etwa wie eine lebendige Torfmoormasse oder wie gekochter Spinat. Diese lebendige, innerlich wachsende Masse war durchsetzt von holzartigen Gebilden. Daraus erwuchs das damalige Pflanzenreich, Pflanzen, die eigentlich Pflanzentiere waren. Sie hat- ten Empfindungen und wiirden einen Druck schmerzlich empfun- den haben, Und der Mensch im damaligen Tierreich war nicht wie das heutige Tier, sondern stand zwischen Mensch und Tier. Er war hoherstehend als das heutige Tier und konnte in viel planvollerer Weise seine Triebe ausfuhren. Er stand aber niedriger als der heutige Mensch, denn er konnte noch nicht zu sich Ich sagen. Er hatte noch nicht den Ich-Leib. Diese drei Reiche lebten auf dem lebendigen Mondenkorper. Wichtig ist, dafS diese Mondmenschen nicht so geatmet haben wie der heutige Mensch. Sie atmeten nicht Luft, sondern Feuer ein und aus. Mit dem Feuereinatmen durchdrangen sie sich mit Warme; beim Ausatmen gaben sie die Warme wieder von sich und wurden kalt. Die heutige innere Blutwarme hatte der Mensch auf dem Mond als Atmungswarme. Viele alte hellsehende Maler symbolisierten das in dem feueratmenden Drachen; sie haben eben gewulk, daft es in uralten Zeiten solche Mondwesen gegeben hat, die Feuer atmeten. Nach seiner Entwickelung durch 7 mal 7 mal 7 Zustande ging der Mond ins Pralaya zuriick und kam dann als Erde wieder hervor. In der ersten Erdenrunde wiederholt sich das ganze Saturndasein, in der zweiten das Sonnen- und in der dritten das Mondendasein. Wah- rend der dritten Runde wiederholte sich auch die Abspaltung von Sonne und Mond. In der vierten Erdenrunde fangt die Erde an, sich herauszubilden. Nun geschieht ein hochwichtiger kosmischer Vorgang: Die Erde hat im Entstehen eine Begegnung mit dem Planeten Mars. Die zwei Pla- neten durchdringen einander, die Erde geht durch den Mars hin- durch. Der Mars hatte einen Stoff, den die Erde damals nicht besafi: das Eisen. Dieses Eisen liefl der Mars in dampfformigem Zustand in der Erde zuriick. Ware dies nicht geschehen, ware die Erde alleinge- blieben mit dem, was friiher schon vorhanden war, dann hatten es die Menschen wohl bis zum Tierreich, wie es damals vorhanden war, gebracht; sie hatten Warme atmen, aber niemals warmes Blut haben konnen. Hatte der Mars der Erde nicht das Eisen eingelagert, dann hatten die Menschen kein warmes Blut bekommen, denn im Blute ist Eisen enthalten. So sagt die Geheimwissenschaft: Die Erde verdankt bei ihrer Entwickelung dem Mars so viel, daft man sie in der ersten Halfte ihres Seins Mars nennt. Fur die zweite Halfte hat eine ebenso wichtige Bedeutung der Merkur. Die Erde trat in alter Zeit in Beziehung zum Merkur und bleibt bis zum Ende ihrer Ent- wickelung mit ihm in Verbindung. Darum spricht man in der Ge- heimwissenschaft nicht von Erde, sondern von Mars und Merkur. Auf dieses Stadium folgen in der Zukunft noch drei Stadien: Ju- piter, Venus, Vulkan. Diese sieben Erdstadien, wie sie die Geheim- wissenschaft angibt, haben sich erhalten in den Namen der Wochen- tage, die allerdings in der deutschen Sprache ziemlich verstummelt sind: Saturn Saturday, Samedi Samstag Sonne Sunday Sonntag Mond Monday, Lundi Mars Mardi, oder Ziu - Tuesday Merkur Mercredi, Wednesday Jupiter Jeudi, Tor, Donar - Thursday Venus Vendredi, Freya - Friday Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag So haben Sie in den Namen der Wochentage die geheimwissen- schaftliche Lehre von dem Durchgang der Erde durch diese verschie- denen Perioden: eine wunderbare Chronik, die es dem Menschen er- moglicht, sich diese Wahrheiten immer wieder zu vergegenwarti- gen. Wir werden im Verlaufe der nachsten Tage dann immer mehr sehen, wie die Theosophie uns erst wieder zum Verstandnis bringt, was unsere Urvater einst einfach im Namen ausgedriickt haben, und wie das Alltaglichste mit dem Allertiefsten zusammenhangt. ZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 31. August 1906 Als die Erde aus dem Dunkel des Pralayazustandes auftauchte, er- schien sie nicht allein, sondern zunachst vereinigt mit der Sonne und unserem heutigen Monde. Sonne, Mond und Erde waren ein Riesen- korper. Das war das Anfangsstadium unseres Planeten. Damals bestand die Erde aus einer sehr, sehr diinnen Materie. Es gab keine festen Mineralien, auch kein Wasser, nur diese feine Mate- rie, die wir Ather nennen. Das Ganze war also ein atherischer, fei- ner Planet, umgeben von einer Geist-Atmosphare, wie die heutige Erde von einem Luftkreis. In dieser Geist-Atmosphare war alles ent- halten, was heute die Menschenseele bildet. Ihre Seelen, die heute in Ihre Korper hineingesenkt sind, waren alle droben in jener geistigen Atmosphare. Die Erde war eine grofte Atherkugel, viel, viel grower als unsere heutige Erde, umgeben von geistiger Substanz, und in die- ser geistigen Substanz waren enthalten die zukiinftigen Menschen- seelen. Unten in der diinnen Materie der Atherkugel war etwas Dichteres vorhanden, namlich Millionen von schalenformigen Ge- bilden. Das waren die wieder herauskommenden Menschenkeime des Saturn. Hier wiederholte sich nun, was sich in alten Zeiten auf dem Saturn gebildet hatte. Von einer physischen Fortpflanzung und Vermehrung dieser Menschenkeime konnte natiirlich nicht die Re- de sein; es gab damals etwas ganz anderes. Die ganze die Erde umge- bende Geist-Atmosphare war, wie unser Luftkreis, mehr oder weni- ger ein einheitliches Ganzes, nur streckten sich von dieser Geist- Umhullung geistige Fortsetzungen wie eine Art von Fangarmen herab in die Atherkugel hinein und hiillten die schaligen Gebilde ein, so daft Sie sich vorzustellen haben, daft sich von oben der Geist heruntersenkte und die einzelnen Korper umhiillte. Diese Fangarme bearbeiteten dieselben und bildeten eine menschliche Form. War das Gebilde fertig, dann zog sich der Fortsatz wieder zuriick, streck- te sich nach einer anderen Richtung aus und arbeitete wieder an an- deren Gebilden. Was hervorgebracht wurde, war also direkt von den geistigen Welten hervorgebracht. Ganz im Anfang war unten ein wirrer, durcheinanderwirbelnder Atherstoff, viel dichter als die einheitliche gottliche Geistessubstanz, die die Arme ausstreckte, um aus dem Chaos Gebilde zu schaffen. Das war die erste Epoche unse- rer Erde; sie wird in der Genesis der Bibel sehr schon ausgedriickt: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wiist und leer, und der Geist Gottes schwebte iiber den Wassern.» Der Ather, wie er unten war, wird geheimwissenschaftlich als «Wasser» bezeichnet. Man hatte damals die Erde nicht sehen konnen, ebensowenig die schaligen Gebilde; diese waren tonende Menschengebilde, und wenn ein solches entstand, druckte es sich in einem bestimmten Ton aus. Es war noch keine Individuality in den Gebilden; diese war noch ganz in der geistigen Atmosphare aufgelost. In diesen Gebilden konnte man sieben Arten von Grundtonen unterscheiden. Diese sieben Gruppen bildeten die ersten sieben menschlichen Wurzelras- sen im Keim. Nach Millionen von Jahren kam ein grofier kosmischer Vor- gang: Der ganze machtige Atherkorper schniirte sich etwas ein, nahm eine biskuitformige Gestalt an und blieb eine Zeitlang so. Endlich trennte sich von diesem gemeinsamen Gebilde ein kleiner Teil ab, bestehend aus Erde und Mond. Mit diesem Vorgang war fur die Menschheitsentwickelung etwas ganz Besonderes verbunden. Die Menschenkeime wurden gegliedert, sie wurden differenziert; durch den Austritt der Sonne konnten nun zuerst Gegenstande von au£en beleuchtet werden. Alles Sehen beruht darauf, dafi Licht vor- handen ist, dafi die Sonnenstrahlen auf die Gegenstande fallen und zuriickgeworfen werden. Das Licht ist der Urheber der Augen, Als die Sonne heraustrat, waren Korper vorhanden, die sie bescheinen konnte. Dadurch war die Moglichkeit gegeben, dafi sich ganz all- mahlich Organe herausbildeten zur Wahrnehmung der beleuchteten Gegenstande. Die Umgebung wurde sichtbar. Diese Zeit wird in der Genesis dargestellt mit den Worten: «Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah das Licht, da£ es gut war, und Gott schied das Licht von der Finsternis.» Das ganze Erden- gebilde geriet nun in Drehung, und dadurch entstanden Tag und Nacht. Wenn man als Geheimwissenschafter die Bibel liest, kann man alles wieder wortlich nehmen. Jetzt war ein grower Teil derjenigen geistigen Wesenheiten, wel- che die Erde umgeben hatten, mit der Sonne fortgegangen. Sie bilde- ten die geistige Bevolkerung der Sonne und wirkten von der Sonne aus auf die Erde. Die physisch-atherischen Menschengebilde wurden nun ausgestattet mit einer Astralhiille. Das Ganze, Erde und Mond, war nun umgeben von einer astralen Atmosphare. Was vorher in der geistigen Atmosphare ausgebreitet war, erstreckte sich nun zu den einzelnen menschlichen Gebilden, die einen selbstandigen phy- sischen und Atherkorper ausgebildet hatten, und umgab sie. Der physische und der Atherkorper war nun herausgebildet. In bezug auf den Astralleib aber war keine Selbstandigkeit vorhanden; es gab noch eine gemeinsame Astralhiille fur alle Wesen. Das war der Erd- geist, und der streckte wiederum seine Fangarme herein und umfing jeden einzelnen Menschenvorfahr. Eine neue Fahigkeit trat nun auf. Jetzt konnte ein jedes Menschengebilde ein anderes aus seiner eigenen Substanz hervorgehen lassen: eine Art Fortpflanzung ohne Befruch- tung durch zwei Wesen. Es war also eine Befruchtung, die nicht geschlechtlicher Art war, sondern die von der ganzen Astralatmo- sphare ausgefiihrt wurde. Wenn sich ein Fangarm niederstreckte, so bedeutete das eine Befruchtung des Menschenwesens, das dadurch wieder andere entwickeln konnte. Die Menschengebilde waren glok- kenf ormig und hatten oben eine rohrenf ormige Off nung zur Auf nah- me der Fangarme; sie offneten sich der Sonne. Das war der hyper- boraische Urmensch; man nennt diese Periode die zweite grofie Wurzelrasse. Diese Menschengebilde waren vielfach gegliedert. Sie starben nicht; einen Tod in unserem Sinne gab es nicht. Sterben bedeutet das Herausziehen des Bewufitseins aus dem Korper. Damals aber war das Bewufitsein noch nicht differenziert, es war ein allge- meines Bewufitsein fur alle Menschen in der Astralhiille. Das Bewufk- sein des einzelnen blieb ein Teil des gemeinsamen Bewufkseins, und wenn es sich aus einem Gebilde zuriickzog, senkte es sich in ein anderes ohne Unterbrechung. Es war gleichsam, wie wenn von einer Wolke sich vorne ein Stuck losloste, das gleich hinten wieder durch ein anderes ersetzt wird. Es war nur eine Metamorphose, und es herrschte eine ununterbrochene Kontinuitat des Bewufttseins. Das Bewuiksein empfand es nur wie ein Wechseln des Kleides. Und das Ganze lebte in wunderbarer Schonheit, es schwebte in den herrlichsten Farben, in einem Lichtather, und verdichtete sich nach und nach. Neben den Menschenvorfahren gab es aber auch schon Tier- und Pflanzenformen, die seine Genossen sein sollten. Die Pflanzen wa- ren die heute zwerghaft gewordenen, niederen Gewachse. Ebenso waren die Tiere noch nicht in ihrer heutigen Gestalt vorhanden. Es waren leuchtende, den Ather durchwirbelnde Pflanzen und Tiere. Mannliche und weibliche Tiere gab es nicht, es war noch alles einge- schlechtig; nur gewisse Tiere fingen gerade an, etwas von der Zwei- geschlechtigkeit zu entwickeln. Ein eigentliches Mineralreich hatte sich noch nicht herausgebildet. Dann trat immer mehr eine Verdich- tung der Atherformen ein, so dafi auch das Astrale immer mehr hereingezogen wurde. Nach einer Jahrmillion sahen Erde und Mond ganz anders aus: Tiere und Pflanzen waren geleeartig, wie Eiweifi, wie gewisse Qual- len und Meerpflanzen; und in dieser verdichteten Materie mit Orga- nen befanden sich die Menschenvorfahren. Die Tier- und Pflanzen- gebilde verdichteten sich nach und nach durch die befruchtende Astralkraft. Dann kam eine wichtige Zeit, wo sich die befruchten- den Wesenheiten in der Astralatmosphare durch die damals leben- den Naturgebilde manifestierten, so dafi Menschen und Tiere die Be- fruchtungs- und Ernahrungssubstanz zugleich durch die umliegende Pflanzenwelt erhielten. Diese sonderte etwas ab, was mit der spate- ren Milch der Menschen und Tiere Ahnlichkeit hatte. Ein letzter Rest solcher milchabsondernder Pflanzen ist zum Beispiel der L6- wenzahn. So ernahrten und befruchteten sich die Menschen damals aus der umgebenden Natur und waren selbstlos. Auf diese Art wa- ren die Menschen vollstandige Vegetarier. Sie nahmen nur auf, was die Natur freiwillig hergab. Sie nahrten sich von milch- und honig- ahnlichen Saften. Es war ein wunderbarer Zustand in dieser ur- fernen Vergangenheit, der sich kaum mit Bildern unserer Sprache beschreiben lafk. Nun kommt ein aufierst wichtiger Moment: Es trennen sich Erde und Mond; der kleinere Mond trennt sich von der Erde ab. Jetzt sind es drei Korper: Sonne, Mond und Erde. Dadurch war fur die le- benden Wesen etwas aufterordentlich Wichtiges gegeben. Der Mond nahm einen grofien Teil derjenigen Krafte mit sich fort, welche die Menschen und Tiergebilde brauchten, um aus sich selbst andere We- sen hervorgehen zu lassen. In jedem Menschen war jetzt nur noch die Halfte der Befruchtungskraft, die friiher in ihm gewesen war. Die produktive Kraft war halbiert, und dadurch entstand nach und nach die Trennung in zwei Geschlechter. Jetzt mufite der Mensch von einem Wesen seinesgleichen befruchtet werden. Diese Zeit war die lemurische Zeit, die dritte Wurzelrasse. In dieser Zeit entstand auch eine groftere Verdichtung und Verdickung des Stoffes. Kurz vor der Trennung von Erde und Mond waren dichtere Einlagerun- gen entstanden, und nach der Trennung bildeten sich in Mensch und Tier knorpelartige Substanzen mit Anlagen zur Knochenver- dichtung. In demselben Mafie, wie sich die aufiere Erdmasse verdich- tete und der feste Boden, die feste Erdkruste sich heranbildete, bilde- te sich im Menschen und im Tier die feste Knochenmasse. Es ent- standen allmahlich feste mineralische Gebilde. Friiher war alles athe- risch gewesen, dann luftartig und fliissig; die Wesen bewegten sich schwebend wie im Wasser oder fliegend wie in der Luft. Jetzt bil- dete sich die Erde in ihren Felsen ein festes Geruste aus wie das Knochengeriist im Innern des Menschen. Knochen- und Felsen- bildung gingen miteinander parallel. Die Form der damaligen Men- schen ist zu vergleichen mit einer Art Fisch-Vogeltier. Der grolke Teil der Erde war noch wasserig, die Temperatur war noch sehr hoch. In diesem wafirigen Element war noch vieles aufgelost, was spater erst fest geworden ist, zum Beispiel auch jetzige Metalle und andere Stoffe. Darin bewegten sich die Menschen sozu- sagen in schwimmender, schwebender Bewegung. Die ungeheure Hitze, die damals auf der Erde herrschte, konnten sie gut ver- tragen; ihr Korper bestand ja noch aus einer Materie, die den geschilderten Verhaltnissen entsprach, so dafi sie darin leben konnten. Dem Wasser waren kleine Kontinente, inselartige Gebilde ein- gelagert, auf denen die Menschen umherwandelten; aber die ganze Erdmasse war durchsetzt von vulkanischer Tatigkeit, die mit un- geheurer Vehemenz fortgesetzt Teile der Erde vernichtete, so dafi diese fortwahrend elementaren Zerstorungen und Neubildungen ausgesetzt war. Die Menschen hatten noch keine Lungen, sie atmeten durch roh- renformige Kiemenorgane. Sie sehen, der damalige Mensch war schon ein sehr kompliziertes Gebilde: Er hatte sich ein Riickgrat ein- gelagert, erst knorpelartig, dann knochig, und urn sich schwebend und schwimmend fortbewegen zu konnen, hatte er eine Schwimm- blase, etwa wie die heutigen Fische. Bald, das heifit immerhin nach Jahrmillionen, wurde die Erde fester. Das Wasser trat zuriick, sonderte sich ab von den festen Bestandteilen, die Luft kam in ihrer Reinheit heraus, und durch den Einflufi der Luft bildete sich die Schwimmblase allmahlich zu Lun- gen um. Der Mensch erhob sich jetzt liber das wasserige Element. Das war ein besonders wichtiger und bedeutungsvoller Vorgang. Die Kiemen bildeten sich zu anderen Organen um, teilweise zu Ge- hororganen. Mit der Ausbildung der Lungen entstand die Fahigkeit des Atmens; dadurch lebt die ganze Menschheit in einem gemeinsa- men Element, in der Luft. Die Menschen sind von Luft umgeben. Jeder Mensch nimmt ein Quantum Luft auf, bildet es nach seiner Form um und gibt es wieder heraus. Anfangs war der Mensch erfiillt mit dem reinen Geiste, spater mit dem Astralen, und jetzt mit der Luft. Nun war der Mensch an dem Punkte angelangt, wo sich die Warmeatmung in Luftatmung umwandelte. Damit wurde verwer- tet, was der Mars gebracht hatte: Es entstand jetzt warmes Blut. Der Moment ist da, wo das, was friiher aufierhalb des Menschen gewesen war, in ihn hineindrang: Der Geist, der friiher ihn umgab, ging in den Menschen hinein. Und wodurch? Durch die Luft. Die Fahigkeit des Atmens bedeutet die Aufnahme des individuellen menschlichen Geistes. Das Ich des Menschen kommt in den Menschen mit der Atemluft hinein. Wenn wir von einem gemeinsamen Ich aller Men- schen sprechen, so hat dieses auch einen gemeinsamen Korper: die Luft. Nicht umsonst haben die Alten dieses gemeinschaftliche Ich Atma, das heifit Atmen, genannt. Sie wufiten genau, dafi sie es beim Atmen einziehen und wieder ausstofien. Wir leben in unserem ge- meinschaftlichen Ich, weil wir in der allgemeinen Luft leben. Natiir- lich darf die Schilderung dieses Vorganges wiederum nicht zu wort- lich genommen werden. Das Hineinsenken des individuellen Ichs in den Menschen wird in der theosophischen Literatur beschrieben als das Herabsteigen des Manas, der Manasaputras. Mit jedem Atemzu- ge nahm ein menschliches Wesen langsam Manas, Budhi und Atma mehr oder weniger im Keime auf. Die Genesis schildert diesen Mo- ment, und wir konnen sie dabei wortlich nehmen: «Und Gott hauchte Adam den Odem des Lebens ein, und er ward eine lebendi- ge Seele.» Das ist die Aufnahme des individuellen Geistes. Der Mensch hatte nun auch warmes Blut, und dadurch konnte er die Warme in sich bleibend machen. Damit ist aber noch etwas sehr Wichtiges verbunden. Auf dem Monde waren auch Wesen vorhanden ge wesen, die ho- lier standen als die damalige Menschenwelt. Das waren die Gotter, in der christlichen Uberlieferung Engel und Erzengel genannt. Sie waren einst auf der Menschenstufe, und so wie wir hoher hinaufge- kommen sein werden auf dem nachsten Planeten, so sind auch sie im Laufe der Zeiten hoher gestiegen. Sie hatten keinen physischen Korper mehr, waren aber noch mit der Erde verbunden. Sie brauch- ten nicht mehr das, was der Mensch brauchte, sie brauchten aber die Menschen selbst, iiber die sie regieren konnten. Als der Mond seine Entwickelung vollendet hatte, blieb von die- sen Gottern ein Teil in der Entwickelung zuriick, sie blieben sozusa- gen sitzen. Sie waren noch nicht so weit, wie sie eigentlich hatten kommen sollen. Und so gab es Wesen, die zwischen Gottern und Menschen standen: Halbgotter. Diese Wesen sind fur die Erde und die Menschheit ganz besonders wichtig geworden. Sie konnten nicht ganz iiber die Menschheit und deren Sphare hinauskommen, sie konnten sich aber auch nicht im Menschen verkorpern. Sie konnten sich nur in einem Teil der Menschennatur verankern, um mit diesem Teil ihre Entwickelung weiterzubringen und zugleich dem Menschen zu helfen. Sie hatten auf dem Monde Feuer geatmet. In dem Feuer, das nun im Menschen dauernd geworden war, im warmen Menschenblut, dem Ursitz der Leidenschaften und Triebe, verankerten sie sich und gaben ihm etwas von dem Feuer, das auf dem Monde ihr Element gewesen war. Das sind die Scharen des Lu- zifer, die luziferischen Wesenheiten. Die Bibel nennt sie die Verfuh- rer der Menschen. Sie verfuhrten den Menschen insofern, als sie in seinem Blute lebten und ihn selbstandig machten. Waren diese luzi- ferischen Wesenheiten nicht dagewesen, so wiirden die Menschen al- les von den Gottern als Geschenk bekommen haben. Sie waren wei- se, aber unselbstandig, abgeklart, aber unfrei geworden. Dadurch, dafi diese Wesenheiten sich in seinem Blute verankerten, wurde der Mensch nicht nur weise, sondern er bekam Feuer, Leidenschaft fur die Weisheit und Ideale. Damit aber war die Moglichkeit des Abirrens gekommen. Die Menschen konnen sich abwenden von dem Hohen. Der Mensch konnte nun wahlen zwischen Gut und Bose. Mit dieser Anlage, mit dieser Moglichkeit des Bosen wurde die lemurische Rasse nach und nach entwickelt. Diese Anlage rief grofle Umwalzungen in der Erde hervor. Die Erde geriet in Zuckungen und Beben, und so ging Le- murien zum grofien Teil durch diese Leidenschaften der Menschen zugrunde. Die Erde hatte sich wieder verandert, verdichtet. Andere Konti- nente waren bereits entstanden. Der wichtigste Kontinent, der sich mittlerweile herausgebildet hatte, war Atlantis zwischen dem heuti- gen Europa, Afrika und Amerika. Auf diesem Kontinent hatten sich die Nachkommen der lemurischen Rasse ausgebreitet. In vielen Mil- lionen Jahren hatte sie sich sehr verandert und eine Gestalt ange- nommen, die der heutigen Menschengestalt ahnelte. Dennoch wa- ren diese Menschen von den heutigen sehr verschieden. Die Kopfbil- dung war eine ganz andere, die Stirn war noch viel niedriger; die Er- nahrungsorgane waren viel machtiger ausgebildet. Der Atherleib des Atlantiers ragte weit liber seinen physischen Kopf hinaus. Im Ather- leib des Kopfes war ein wichtiger Punkt, der mit einem Punkte im physischen Kopf korrespondierte. Die Entwickelung bestand nun darin, dafi beide Punkte zusammenriickten, so daft der Punkt des Atherkopfes sich in den Punkt des physischen Korpers hineinschob. In diesem Augenblick, wo beide Punkte zusammenfielen, konnte der Mensch anfangen, Ich zu sich selbst zu sagen. Das Vorderhirn konnte jetzt ein Werkzeug werden fur den Geist; es entstand das Selbstbewufksein. Dieser Moment trat zuerst bei den in der Gegend des heutigen Irland wohnenden Atlantiern auf. Die Atlantier entwickelten sich nach und nach in sieben Unter- rassen: Rmoahals, Tlavatli, Urtolteken, Urturanier, Ursemiten, Ur- akkadier und Urmongolen. Bei den Ursemiten geschah die Vereini- gung der beiden Punkte und entwickelte sich das klare Selbstbe- wufitsein. Die beiden folgenden Unterrassen, die Urakkadier und Urmongolen, schossen eigentlich uber das Ziel der atlantischen Menschheit hinaus. Vor dieser Vereinigung der beiden Punkte waren die Seelenkrafte der Atlantier grundverschieden von heute. Die Atlantier hatten ei- nen viel beweglicheren Korper und vor alien Dingen in der allerer- sten Zeit einen machtigen, starken Willen. Sie konnten zum Beispiel verlorene Gliedmafien erganzen, Pflanzen schnell wachsen lassen und ubten dadurch einen gewaltigen Einfluft auf die Natur aus. Sie hatten machtig ausgebildete Sinnesorgane; sie konnten Metalle durch das Gefuhl unterscheiden, wie wir Geriiche unterscheiden. Dann aber hatten sie in hohem Grade die Gabe des Hellsehens. Sie schliefen in der Nacht nicht wie der heutige Mensch, der hochstens verworrene Traume hat, sondern wie der Hellseher, nur dumpfer. Sie standen nachts im Verkehr mit den Gottern, und was sie da er- lebten, das lebt noch fort in den Mythen und Sagen. Sie zwangen die Naturkrafte in ihren Dienst. Ihre Wohnungen waren halbe Natur- gebilde und in Felsen hineingehauen. Die Atlantier konstruierten Luftschiffe, zu deren Fortbewegung sie nicht anorganische Kraft, wie zum Beispiel die heutige Kohlenkraft, sondern die organische Pflanzentriebkraft verwandten. Dadurch, dafi die oben erwahnten beiden Punkte noch nicht miteinander verbunden waren, hatten die Atlantier keinen kombi- nierenden Verstand. So konnten sie zum Beispiel nicht rechnen. Aber dafiir hatten sie eine andere Seelenkraft ganz besonders ausge- bildet: das Gedachtnis. Die kombinierende logische Verstandeskraft und das Selbstbewufitsein kamen erst in der fiinften Unterrasse, den Ursemiten, hervor. Durch eine gewaltige Wasserkatastrophe ging Atlantis zugrunde. Der ganze Kontinent wurde allmahlich iiberflutet, und die Volks- massen wanderten ostwarts, nach Europa und Asien. Ein Haupt- zweig bewegte sich von Irland durch Europa nach Asien. Uberall blieben Volksmassen zuriick. Gefiihrt wurden sie von einem hohen Eingeweihten, dem sie ganz und gar vertrauten. Dieser bewirkte dann durch seine Weisheit eine Auslese, er nahm die Besten mit sich und siedelte sie im fernen Asien an einer Statte an, wo heute die Wii- ste Gobi liegt. Da wurde dann in volliger Absonderung eine kleine Kolonie besonders ausgebildet. Von dieser Kolonie aus gingen dann Kolonisatoren in alle bewohnten Lander und begriindeten die Kul- turen der nachsten Wurzelrasse: die indische, die altpersische, die agyptisch-babylonisch-assyrische, die griechisch-lateinische Kultur. Und dann entstand die germanisch-angelsachsische Kultur. Wir werden dann morgen sehen, wie die Entwickelung sich weiter gestaltete. ELFTER VORTRAG Stuttgart, 1. September 1906 Ich schilderte Ihnen gestern, wie der grofie Eingeweihte sich aus der Gegend des heutigen Irland unter den Ursemiten eine Schar aus- suchte, die er nach dem Osten fiihrte und dort ansiedelte. Dort machte der Manu seine Auserwahlten zu Stammvatern der neuen Kulturen. Er belehrte sie und gab ihnen Anweisung zu einer morali- schen Lebensfiihrung, die bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vorgeschrieben war: wie die Zeit einzuteilen und die Arbeit vom Morgen bis zum Abend zu verrichten war. Aber mehr noch als durch seine Lehren erzog er sie durch seinen unmittelbaren EinfluE und durch seine Gedanken. Sein Einflufi war unmittelbar suggestiv; wenn er seine Gedanken in die Kolonie hineinschickte, wirkten sei- ne Ideen und Vorschriften suggestiv. Solch einen Einflufi brauchte der damalige Mensch zu seiner Umbildung. Fur den Unterschied in der ganzen Anschauung zwischen der at- lantischen und der neuen Wurzelrasse ist folgende Szene charakteri- stisch, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts abspielte. Europai- sche Kolonisten hatten die Indianer, in denen wir in der atlantischen Kultur stehengebliebene Nachkommen der alten Atlantier zu sehen haben, veranlafit, ihnen Landerstrecken abzutreten unter der Bedin- gung, dafi man ihnen neue Jagdgriinde anweisen wiirde. Dieses Ver- sprechen war nicht gehalten worden, und das konnte der Hauptling nicht begreifen. Das war die Veranlassung zu dem folgenden Ge~ sprach. Der Indianer sagte: Ihr Bleichgesichter habt uns verspro- chen, dafi euer Hauptling unseren Briidern anderes Land anweisen werde, nachdem ihr uns dieses genommen habt. Eure Fufie stehen jetzt auf unserem Land und gehen iiber die Graber unserer Vater. Der weifie Mann hat sein Versprechen dem braunen Manne nicht gehalten. Ihr Bleichgesichter habt schwarze Instrumente mit allerlei kleinen Zauberzeichen - gemeint sind Biicher - und aus diesen lernt ihr erkennen, was euer Gott will. Das mufi aber ein schlechter Gott sein, der die Menschen nicht lehrt, ihr Wort zu halten. Der braune Mann hat nicht einen solchen Gott, der braune Mann hort den Donner und sieht den Blitz, und diese Sprache versteht er; da spricht sein Gott zu ihm. Er hort im Walde das Rauschen der Blatter und Baume, auch da spricht sein Gott zu ihm. Er hort die Wellen im Bach platschern, und dann versteht der braune Mann diese Sprache. Er spurt, wenn sich ein Sturm erhebt. Uberall hort er seinen Gott zu ihm sprechen, und dieser Gott lehrt etwas ganz anderes, als was euch eure schwarzen Zauberzeichen sagen. Es ist das eigentlich eine recht bedeutsame Rede, denn sie enthalt eine Art Glaubensbekenntnis. Nicht in vernunftgemafien Begriffen und Vorstellungen erhob der Atlantier sich zu seinem Gott, sondern er spurte gleichsam etwas Heiliges in aller Natur als einen Grund- akkord der Gottheit, er atmete gleichsam seinen Gott aus und ein. Und wenn man aussprechen wollte, was man so horte, dann fafite man es zusammen in einen Laut, der ahnlich dem chinesischen Tao ist. Das war fur den Atlantier der Laut, der die ganze Natur durch- stromte. Wenn er ein Blatt beriihrte, wenn er einen Blitzstrahl sah, so war er sich bewufit, einen Teil der Gottheit vor sich zu haben; es war ihm, als beriihre er das Kleid der Gottheit. Wie man im Hande- druck das Seelische eines Menschen mitergreift, so ergriff der Atlan- tier, wenn er ein Naturgebilde anfafite, den Korper der Gottheit. Es war eine ganz andere religiose Empfindung, in der jene lebten. Dazu kam noch, daft die Atlantier mit Hellsehen begabt waren und da- durch im Verkehr mit der Geisterwelt standen. Dann aber entwickelte sich das rechnerische, logische Denken, und je hoher sich dieses entwickelte, desto mehr nahm das Hellse- hen ab. Die Menschen machten sich viel mehr mit dem zu tun, was die Sinne von aufien wahrnahmen, und dadurch wurde die Natur mehr und mehr ihrer Gottlichkeit entkleidet. Die Menschen erober- ten sich eine neue Gabe auf Kosten einer alten. In dem Mafie, wie sie die Gabe des genauen sinnlichen Anschauens erlangten, horten sie auf zu verstehen, dafi die Natur der Korper der Gottheit ist. Nach und nach hatten sie nur noch den Korper der Welt vor sich, nicht mehr die Seele. Dadurch entstand in dem nachatlantischen Men- schen die Sehnsucht nach dem Gottlichen. In seinem Herzen stand ja geschrieben: Hinter der Natur mufi die Gottheit sein und er er- kannte, dafi er sie mit dem Geiste suchen miisse. Das Wort Religion heifk nichts anderes als: Suchen, eine Wiederverbindung mit der Gottheit herzustellen; religere heifit wiederverbinden. Nun gibt es verschiedene Wege, die Gottheit zu finden. Die erste Unterrasse der nachatlantischen arischen Rasse, die Inder, ging folgenden Weg. Einige gotterfiillte Sendboten des Manu, die heiligen Rishis genannt, wurden die Lehrer der uralten indischen Kultur, von der keine Dichtung, keine Tradition erzahlt, die nur noch in den mundlichen Uberlieferungen der Geheimschulen bekannt ist. Wunderbare Dich- tungen, wie die Veden und Bhagavad Gita, sind viel spater entstan- den. Der alte Inder sagte sich: Das, was uns geblieben ist als au£ere Natur, ist nicht die wahre Natur; hinter dieser Natur verbirgt sich die Gottheit. - Und das, was sich hinter der Natur verbirgt, das nannte er Brahman, den verborgenen Gott. Die ganze aufiere Welt war fur ihn nur Illusion, Tauschung, Maja. Und wahrend der Atlan- tier noch in jedem Blatt die Gottheit spurte, sagte der Inder: Nir- gends mehr in der Aufienwelt zeigt sich die Gottheit. In das Innere mufi man sich versenken. Man mufi die Gottheit suchen im eigenen Herzen, man mu(S ihr nachgehen in einem hoheren, geistigen Zu- stand. - Etwas Traumartiges hatte alles Sichnahern der Gottheit beibehalten. In der Natur fand der Inder keine Gottheit; in grofien und machtvollen Gedankenbildern, in Visionen und Imaginationen ging ihm die Welt des Brahman auf. Yoga war die Schulung, die er durchmachte, um jenseits der Illusion zum Geiste, zum Ursein zu kommen. Die tiefsinnigen Veden, die Bhagavad Gita, dieses Hohe- lied von der menschlichen Vollkommenheit, sind nur Nachklange jener uralten Gottesweisheit. Das war die erste Stufe, auf der die Menschheit zuruckkommen wollte zur Gottheit; es ist eine Stufe, die es in der aufteren Kultur nicht besonders hoch bringen konnte. Denn von allem Aufieren hat sich der Inder abgewandt; nur in einem weltabgewandten Aufgehen im Geiste hat er das hohere Leben gesucht. Schon eine andere Mission hatte die zweite Unterrasse, die Ur- perser, deren Kultur gleichfalls wohlberechnet vom Manu ausging. Noch vor der Zarathustra-Zeit hatten die alten Perser eine uralte Kultur, die sich auch nur durch miindliche Uberlieferung erhalten hat. Dem Menschen erwuchs jetzt der Gedanke, dafi die aufiere Wirklichkeit ein Abbild der Gottheit sei, dafi man sich nicht von ihr abwenden, sondern sie umgestalten musse. Der Perser wollte die Natur umgestalten, er wollte an ihr arbeiten; er wurde ein Acker- bauer. Aus der Stille der weltfremden Gedankenwelt trat er hinaus und merkte an dem Widerstand, der sich ihm entgegenstellte, dafi doch nicht alles Maja sei, dafi neben der Welt des Geistes auch eine sehr reale Welt der Wirklichkeit existiere. Neben der Welt des Gei- stes fand er eine Welt, in der man arbeiten mufite. Es erwuchs in ihm allmahlich die Uberzeugung, dafi es zwei Welten gibt: eine Welt des guten Geistes, in die man sich vertiefen kann, und die ande- re Welt, die man bearbeiten mufi. Und dann sagte er sich: In der Welt des Geistes werde ich die Ideen und Begriffe finden, durch die ich die aufiere Wirklichkeit umwandeln werde, so dalS sie selbst ein Abbild des ewigen Geistes wird. So sah der Perser sich selbst in einen Kampf hineingestellt zwi- schen zwei Welten, und das gestaltete sich spater mehr und mehr um zu den beiden Machten Ormuzd, die Welt des guten Geistes, und Ahriman, die Welt, die umgestaltet werden mufi. Eines aber fehlte dem Perser noch: Die aufiere Welt stand ihm gegeniiber als ein Wesen, das er nicht verstand; er konnte keine Gesetze darin fin- den. Er merkte nicht, dafi das Geistige in der Natur zu finden ist; er empfand nur den Widerstand bei seiner Arbeit. Diese Weltgesetze lernte die dritte Unterrasse kennen, die chal- daisch-assyrisch-babylonisch-agyptischen Volker, und spater die Semiten, die wie ein Zweig aus ihnen hervorgingen. Sie sahen empor zum Sternenhimmel, sie beobachteten den Gang der Gestirne und ihren Einflufi auf das menschliche Leben und ersannen danach eine Wissenschaft, durch die sie die Bewegung und den Einflufi der Ge- stirne begreifen konnten. Sie verbanden Himmel und Erde mitein- ander. Wir konnen den Charakter dieser dritten Unterrasse an einem Beispiel betrachten. Der Agypter sagte sich: Der Nil uberschwemmt zu einer bestimmten Zeit das Land und macht es fruchtbar. Das geschieht stets beim Aufgang eines bestimmten Sternbildes, des Sirius. - Und nun beobachteten die Agypter die Zeit der Uberschwemmungen. Das Sternbild, das dann am Himmel stand, brachten sie mit der Tatigkeit des Nils in Zusammenhang. Sie beobachteten ferner den Stand der Sonne beim Kommen und Fortwandern gewisser Vogel, das Auf- und Niedergehen der Sterne und ihre Beziehungen zueinander und zur Menschheit und bil- deten so eine Wissenschaft aus. Es wurde ihnen offenbar, da$ groEe Weisheit in alien Naturvorgangen herrsche, da£ alles nach groften Gesetzen geschehe, die sie zu durchdringen suchten. Vor allem waren es die alten chaldaischen Priester, die Vertreter einer tiefen Weisheit waren. Die Naturgesetze waren ihnen aber keine abstrakten Gesetze. Sie sahen in den Sternen keine physischen Weltkugeln, sie sahen jeden Planeten beseelt durch eine Wesenheit, deren Korper der Planet war. Ganz konkret stellten sie sich hinter jedem Sternbild die belebende Gottheit vor. So spiirte der Agypter, der Chaldaer, dafi er im Schofie der Welt der Geister als Geist unter Geistern eingeschlossen war; er sah weisheitserfullte Materie. Sie sehen, die Menschheit war allmahlich dahin gelangt, auf dem Wege der Wissenschaft wieder die Weisheit in der aufieren Natur zu erkennen, zu erneuern, was dem alten Atlantier als ein naturliches hellseherisches Wissen eignete. Die vierte Unterrasse, die griechisch-romische Kultur, wurde nicht direkt von dem Manu beeinflufit, stand aber unter dem Ein- flufi der anderen Kulturen. Sie hatte wiederum eine andere Mission: die Kunst. Nach und nach hatte der Mensch den Weg zur Vergeisti- gung der Natur gefunden. Der Grieche ging weiter als der Agypter; er nahm nicht die fertigen Naturbilder, sondern er nahm die unge- formte Materie, den Marmor, und driickte ihm seinen eigenen Stem- pel auf. Er formte sich selbst den Zeus und die anderen Gotter. Die dritte Unterrasse suchte den Geist in der Aufienwelt; die vierte Un- terrasse pragte ihr den Geist selbst ein. Die Kunst, das Einzaubern des Geistes in die Materie, war der griechisch-lateinischen Rasse vorbehalten. Der Agypter studierte den Gang der Sterne und richtete danach die Staatenbildung ein auf Jahrhunderte hinaus. Der Grieche pragte das, was er aus seinem Innern nahm, der aufleren menschlichen Ge- meinschaft ein, den Stadten Sparta, Kolchis und so weiter. Der Romer ging noch weiter, er formte nicht nur Stein und Erz, sondern auch das ganze grofie Gemeinwesen der Menschen nach seinem Geiste um. Die Germanen und Angelsachsen, die fiinfte Unterrasse, gehen noch viel weiter in bezug auf die Formung der Aufienwelt. Diese Unterrasse, der wir selbst angehoren, pragt der Materie nicht nur ein, was im Menschen lebt, sondern sie pragt die Naturgesetze selbst der Materie ein. Sie entdeckt die gottlichen Weltengesetze, die Ge- setze der Schwerkraft, des Lichtes, der Warme, des Dampfes, der Elektrizitat und gestaltet mit ihrer Hilfe die ganze Sinnenwelt um. Ihre Mission ist, nicht nur die im Menschen schlummernden Geset- ze, sondern die die ganze Welt durchflutenden Gesetze zu studieren und sie der Aufienwelt aufzudriicken. Dadurch ist die ganze Menschheit materieller, ja materialistisch geworden; es konnte kein Zeus entstehen, sondern - die Dampfmaschine, Telegraf, Telefon und so weiter. Auf uns wird eine andere Rasse folgen, die wiederum den Weg zuriick finden wird. In unserer Rasse ist der Mensch auf dem Hohe- punkt der Umgestaltung der physischen Welt angelangt. Wir sind am weitesten heruntergestiegen auf den physischen Plan, bis zum Aufiersten sind wir gekommen in der Eroberung des physischen Planes. Das war die Aufgabe der nachatlantischen Menschheit. Der Inder hatte sich abgewandt vom Physischen. Der Perser erkannte es als Masse, die ihm Widerstand entgegensetzte. Die Chaldaer, Babylo- nier, Agypter erkannten die Weisheit der Natur. Die Griechen und Romer eroberten von innen aus den physischen Plan weiter, und erst unsere Menschheitskultur ist so weit vorangeschritten, daft sie die Naturgesetze dem physischen Plan einverleibt. Und nun wird die Menschheit wieder spiritueller werden. Gewaltig, sinnvoll ist der Gang der Menschheitsentwickelung. Jede Menschengruppe hat ihre Aufgabe. Was in der dritten und vier- ten Unterrasse noch in Mythen und Sagen fortlebt, die Erinnerung an die Urzeit, an die Gotterwelt, unsere Menschheit hat nichts mehr davon, sie hat nur noch die physische Welt. Mit dem Heraustreten auf den physischen Plan hat die Menschheit den Zusammenhang mit der Gotterwelt verloren; nur noch die physische Welt ist fur sie vorhanden. Der Theosoph ist kein Reaktionar, er weifi, dafi die materielle Zeit eine Notwendigkeit war. Geradeso wie die Tiere nach ihrer Einwanderung in finstere Hohlen zwar andere Organe machtig aus- bildeten, die Sehorgane aber riickbildeten, so geschieht es iiberall in der geistigen und sinnlichen Welt: Wo eine Fahigkeit sich ent- wickelt, mufi eine andere zurticktreten. Die hellseherische Gabe und die Kraft der Erinnerung mufiten zurticktreten, damit das physische Sehen sich ausbilden konnte. Als der Mensch lernte, die auftere Welt durch Naturgesetze zu beherrschen, mulke er die geistige Sehkraft einbiifien. Wie ganz anders sah man friiher! Kopernikus zum Beispiel hat die Menschheit von dem alten Irrtum abgebracht, dafi die Erde stillste- he. Er lehrte, es sei ein Irrtum, anzunehmen, da$ die Sonne sich um die Erde drehe. Kepler und Galilei bildeten diese Lehre weiter aus. Und doch haben beide, Kopernikus und Ptolemkos, recht; es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem aus man die Sonne und die Erde betrachtet. Sieht man unser Sonnensystem nicht vom physi- schen, sondern vom astralen Plan aus, so ist das Ptolemaische System das richtige. Da steht die Erde im Mittelpunkt, und es verhalt sich so, wie es die alte Welt beschrieben hat. Man braucht sich ja nur zu erinnern, dafi auf dem Astralplan alles umgekehrt erscheint. Das Ptolemaische System gilt also fur den astralen, das Kopernikanische fur den physischen Plan. In Zukunft wird noch ein ganz anderes Weltbild kommen. Gewohnlich wird blofi betont, dafi Kopernikus zwei Dinge gelehrt habe: dafi die Erde sich um ihre Achse bewege und dafi sich die Erde um die Sonne bewege. Man beachtet es gar nicht, dafi er noch eine andere Bewegung gelehrt hat, dafi namlich das ganze System sich in einer Spirale fortbewegt. Das bleibt liegen, bis die Menschheit in der Zukunft einmal darauf zuruckkommen wird. Kopernikus stand an der Grenze und hatte das alte noch in starker Weise an sich. Es gibt keine absolute Wahrheit; jede Wahrheit hat ihre Mission in einer bestimmten Zeit. Und wenn wir heute von Theosophie sprechen, so wissen wir, dafi, wenn wir wiedergeboren werden, wir etwas anderes horen werden und in ganz anderer Weise zueinander stehen werden. Blicken wir zuriick in Zeiten, da wir vielleicht schon einmal zu- sammengewesen sind in irgendeiner Gegend des nordlichen Europa, wo Menschen sich um den Druidenpriester sammelten, der ihnen die Wahrheit in Form von Mythen und Sagen erzahlte. Hatten wir nicht zugehort und hatte er nicht unsere Seelen geformt, so wiirden wir nicht verstehen, was uns heute die Theosophie in anderer Form als Wahrheit wiederbringt. Und wenn wir wiederkommen werden, wird in anderer Form gesprochen werden, in einer hoheren Form. Die Wahrheit entwickelt sich wie alles andere in der Welt. Sie ist die Form des gottlichen Geistes, der gottliche Geist aber hat viele For- men. Durchdringen wir uns mit diesem Charakter der Wahrheit, dann werden wir ein ganz anderes Verhaltnis zu ihr gewinnen. Wir werden uns sagen: Zwar leben wir in der Wahrheit, aber sie kann die verschiedensten Formen haben. - Wir werden dann auch zu der gegenwartigen Menschheit in einer ganz anderen Weise hinschauen. Wir werden nicht sagen, dafi wir die absolute Wahrheit haben, son- dern wir werden sagen: Diese Menschenbruder stehen jetzt auf einem Standpunkte, auf dem wir auch einmal gestanden haben. - Wir haben die Verpflichtung, auf das, was der andere sagt, einzugehen; wir brauchen ihm nur klarzumachen, dafi wir ihn schatzen auf der Stufe der Wahrheit, auf der er steht. Ein jeder hat zu lernen, und so werden wir tolerant gegen eine jede Form der Wahrheit. So lernen wir alles verstehen; wir kampfen nicht gegen die Menschen, sondern suchen mit ihnen zu leben. Die neuere Menschheit hat die Freiheit der Per- sonlichkeit herausgebildet. Die Theosophie wird aus dieser Grundan- schauung \iber die Wahrheit eine innere Toleranz der Seele ausbilden. Die Liebe steht hoher als die Meinung. Die verschiedensten Mei- nungen vertragen sich, wenn sich die Menschen lieben. Deshalb hat es einen tiefen Sinn, dafi in der theosophischen Weltanschauung kei- ne Religion angegriffen und keine besonders herausgestellt wird, sondern alle werden verstanden, und es kann sich ein Bruderbund entwickeln, weil sich die Mitglieder der verschiedensten Religionen verstehen. Das aber ist eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit heute und in der Zukunft: dieses Mit-den-andern-Leben, dieses Einander- verstehen. Und solange diese menschliche Gemeinschaftsstimmung sich nicht entwickelt, kann von einer okkulten Entwickelung nicht die Rede sein. ZWOLFTER VORTRAG Stuttgart, 2. September 1906 Aus den gestrigen Ausfiihrungen iiber das Entwickeln einer mensch- lichen Gemeinschaftsstimmung werden Sie ersehen haben, wie wichtig es ist, die Riicksicht auf das eigene Ich zu iiberwinden, wenn es sich darum handelt, tiefer in die geistige Welt einzudringen. Fiir den Anfanger, der eine okkulte Entwickelung anstrebt, ist die erste Grundbedingung: Er mufi sich jeder Art von Egoismus entledigen. Er darf zum Beispiel nicht sagen: Was hilft es mir, wenn andere mir von okkulten Dingen erzahlen und ich selbst es nicht sehen kann. - Das ist ein Mangel an Vertrauen. Es ist notwendig, dafi man Ver- trauen hat zu denjenigen, die schon einen gewissen Grad der Ent- wickelung erreicht haben. Die Menschen wirken miteinander, und wenn einer mehr erreicht hat, so hat er das nicht fiir sich erreicht, sondern fiir alle anderen, und diese sind dazu berufen, ihn anzuho- ren. Dadurch werden die eigenen Krafte erhoht, und diese Zuhorer werden gerade dadurch, dafi sie erst das Vertrauen haben, allmahlich selbst Wissende. Man darf nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen wollen. Nun gibt es drei okkulte Entwickelungswege: den orientali- schen, den christlich-gnostischen und den christlich-rosenkreuze- rischen oder einfach rosenkreuzerischen Weg. Sie unterscheiden sich vor allem in Beziehung auf die Hingebung des Schulers gegen- tiber dem Lehrer. Was geschieht iiberhaupt mit einem Menschen, der sich okkult entwickelt? Welches sind die Bedingungen zur okkulten Entwickelung? Um das zu schildern, betrachten wir einmal das Leben eines heu- tigen gewohnlichen Menschen. Das Leben eines solchen verlauft so, dafi er von friih bis spat seiner Arbeit und seinen taglichen Erfah- rungen nachgeht, dafi er seinen Verstand anwendet und seine aufie- ren Sinne gebraucht. Er lebt und arbeitet also in einem Zustand, den wir den Wachzustand nennen. Das ist aber nur ein Zustand; ein an- derer ist der, der zwischen Wachen und Schlafen liegt. Da ist der Mensch sich bewuftt, daft Bilder durch seine Seele ziehen, Traumbil- der. Sie beziehen sich nicht direkt auf die auftere Welt, auf die ge- wohnliche Wirklichkeit, sondern indirekt. Diesen Zustand konnen wir den Traumzustand nennen. Es ist sehr interessant zu studieren, wie dieser Zustand verlauft. Viele Menschen werden der Meinung sein, daft der Traum etwas ganz Sinnloses ist. Das ist nicht der Fall. Auch beim heutigen Menschen haben die Traume einen gewissen Sinn, nur nicht den Sinn, den die Erlebnisse im Wachzustande ha- ben. Im Wachen stimmt unsere Vorstellung immer mit bestimmten Sachen und Erlebnissen iiberein; beim Traum gestaltet sich das an- ders. Man kann zum Beispiel schlafen und traumen, daft man auf der Strafte Pferdegetrappel hort; man wacht auf und merkt, daft man das Ticken einer Uhr gehort hat, die man neben sich liegen hatte. Der Traum ist ein Symboliker, ein Sinnbildner, er driickte das Ticktack der Uhr sinnbildlich durch Pferdegetrappel aus. Man kann ganze Geschichten traumen. Ein Student zum Beispiel traumt von einem Duell mit alien vorangehenden Einzelheiten, von der Forderung auf Pistolen bis zum Krachen des Schusses, der ihn aufweckt. Da zeigt es sich, daft er den Stuhl, der neben seinem Bett stand, umgeworfen hatte. Ein anderes Beispiel: Eine Bauerin traumt vom Kirchgang. Sie tritt in die Kirche, der Priester spricht erhabene Worte, seine Arme bewegen sich; auf einmal werden seine Arme zu Fliigeln, und dann fangt der Geistliche plotzlich an zu krahen wie ein Hahn. Sie wacht auf, und drauften kraht der Hahn. Man sieht daraus, daft der Traum ganz andere Zeitverhaltnisse hat als das Tagesbewufttsein, denn bei den angefuhrten Traumen trat die eigentliche Ursache zeitlich als letztes Ereignis ein. Das riihrt davon her, daft ein solcher Traum, verglichen mit der physi- schen Wirklichkeit, in einem Augenblick durch die Seele schieftt und im Nu eine ganze Reihe von Vorstellungen erweckt; der Mensch verpflanzt dabei selbst die Zeit in den Traum hinein. Man mufi sich das in der folgenden Weise vorstellen: Indem der Aufwa- chende sich an alle Einzelheiten erinnert, dehnt er innerlich die Zeit selbst aus, so daft es ihm erscheint, als ob die Ereignisse in der entsprechenden Zeitlange abgelaufen waren. Ein kleines Geschehnis wird also im Traum oft zu einem langen dramatischen Vorgang. Hier konnen wir einen Einblick gewinnen, wie die Zeit im Astralen er- scheint. Auch innere Zustande konnen sich im Traum symbolisch dar- stellen, zum Beispiel ein Kopfschmerz: Der Mensch traumt, er sei in einem dumpfen Kellerloch mit Spinnweben. Ein Herzklopfen und eine innerliche Hitze wird als gliihender Ofen empfunden. Leute, die eine besondere innere Sensitivitat haben, konnen noch anderes erleben. Sie sehen sich zum Beispiel in einer ungliicklichen Lage im Traum. Da wirkt der Traum als Prophet; das ist dann ein Symbol dafiir, dafi eine Krankheit in ihnen steckt, die in einigen Tagen herauskommt. Ja, manche Menschen traumen sogar die Heilmittel gegen eine solche Krankheit. Kurz, eine ganz andere Art des Wahr- nehmens ist in diesen Traumzustanden vorhanden. Der dritte Zustand des Menschen ist der traumlose Schlafzu- stand, wo nichts in der Seele aufsteigt, wo der Mensch bewufklos schlaft. Wenn nun durch die innere Entwickelung der Mensch be- ginnt, die hoheren Welten wahrzunehmen, so kiindigt sich das zu- erst in seinem Traumzustand an, und zwar dadurch, dafi die Traume regelmafiiger werden und sinnvoller sind als vorher. Vor alien Din- gen gewinnt der Mensch Erkenntnisse durch seine Traume; er mufi nur recht auf sie achtgeben. Spater bemerkt er dann, dafi die Traume haufiger werden, bis er meint, die ganze Nacht hindurch getraumt zu haben. Ebenso kann er beobachten, dafi die Traume sich mit Dingen verbinden, die es in der Aufienwelt gar nicht gibt, die man physisch gar nicht erleben kann. Er merkt, dafi in den Traumen ihm jetzt nicht mehr blofie Dinge erscheinen, die entweder aufierlich auf ihn einwirken oder Zustande versinnbildlichen, wie sie oben ge- schildert wurden, sondern er erlebt, wie gesagt, Bilder von Dingen, die in der sinnenfalligen Wirklichkeit gar nicht existieren, und er merkt dann, dafi ihm die Traume etwas Bedeutungs voiles sagen. Zum Beispiel kann es in der folgenden Weise anfangen: Er traumt, ein Freund befinde sich in Feuersgefahr, und er sieht, wie er in die Gefahr hineinriickt. Am nachsten Tag erfahrt er, dafi dieser Freund in der Nacht krank geworden ist. Er hat nicht gesehen, dafi der Freund krank geworden ist, aber ein Sinnbild dafiir hat er geschaut. So konnen auch von den hoheren Welten Einfliisse auf die Traume erfolgen, so daft man etwas erfahrt, was es gar nicht in der physi- schen Welt gibt; da gehen Eindriicke von den hoheren Welten in den Traum iiber. Das ist ein sehr wichtiger Ubergang zur hoheren okkulten Entwickelung. Nun kann da jemand einwenden: Das ist ja alles nur getraumt, wie kann man darauf etwas geben? - Das ist nicht richtig. Nehmen wir folgendes Beispiel an: es hatte Edison einmal getraumt, wie man eine Gliihlampe macht; er hatte sich dann dieses Traumes erinnert und wirklich dem Traum gemaft eine Gliihlampe angefertigt, und nun ware jemand gekommen und hatte gesagt: Nichts ist es mit der Gliihlampe, das ist ja bloft getraumt! - Es handelt sich eben darum, ob das Getraumte Bedeutung hat fur das Leben, nicht darum, daft es getraumt ist. Vielfach werden nun solche Traumzustande gar nicht beachtet, weil man zuwenig aufmerksam ist. Das ist nicht gut. Gera- de auf solche subtile Sachen sollten wir unsere Aufmerksamkeit wenden; das bringt vorwarts. Spater tritt nun ein Zustand ein, wo sich dem Schiller das Wesen der Wirklichkeit im Traum enthiillt, und er kann dann die Traume an der Wirklichkeit priifen. Wenn er so weit ist, daft er nicht bloft im Schlaf, sondern auch bei Tag die ganze Bilderwelt vor sich hat, dann kann er mit dem Verstand zergliedern, ob das wahr ist, was er sieht. Man darf also nicht etwa die Traumbilder als eine Grundlage fur die Weisheit ansehen und benutzen, sondern man mu£ warten, bis sie sich in die Tageswelt hineindrangen. Wenn man sie bewufit kontrolliert, dann kommt auch bald der Zustand, wo der Schuler nicht nur sieht, was physisch vorhanden ist, wo er auch wirklich be- obachten kann, was am Menschen die Aura, die Seele ist, was astral an ihm ist. Man lernt dann verstehen, was die Formen und Farben im Astralleib bedeuten, welche Leidenschaften zum Beispiel sich darin ausdriicken. Man lernt allmahlich die seelische Welt sozusagen buchstabieren. Nur muft man sich stets dessen bewuftt sein, daft alles sinnbildlich ist. Man kann dagegen einwenden: Wenn man nur Sinnbilder sieht, dann kann ja ein Ereignis in alien moglichen Sinnbildern symboli- siert sein, und man kann sich gar nicht klar werden, dafi so ein Bild sich gerade auf etwas Bestimmtes bezieht. - Auf einer gewissen Stufe jedoch stellt sich eine Sache immer nur unter dem gleichen Bilde dar, gerade wie sich ein Gegenstand immer nur durch die gleiche Vorstellung ausdriickt. So driickt sich zum Beispiel Leidenschaft im- mer durch blitzartige rotliche Farben aus. Man mufi nur lernen, die Bilder auf das Richtige zu beziehen. Man erkennt an dem Bild den Seelenzustand. Nun begreifen Sie, warum in alien Religionsbuchern fast durch- weg in Bildern gesprochen wird. Da wird die Weisheit zum Beispiel Licht genannt. Der Grund dafiir ist, dafi dem okkult Entwickelten die Weisheit des Menschen und der anderen Wesen immer als ein astrales Licht erscheint. Leidenschaften erscheinen als Feuer. Die re- ligiosen Urkunden teilen Dinge mit, die sich nicht nur auf dem phy- sischen Plan abspielen, sondern auch Geschehnisse auf hoheren Pla- nen. Diese Urkunden riihren samtlich von Hellsehern her und be- ziehen sich auf hohere Welten; deshalb miissen sie zu uns in Bildern sprechen. Alles, was aus der Akasha-Chronik erzahlt worden ist, wurde deshalb auch in solchen Bildern dargestellt. Der nachste Zustand, den der Schiiler erlebt, ist der, den man als Kontinuitat des Bewufkseins bezeichnet. Wenn der gewohnliche Mensch im Schlaf der sinnlichen Welt ganz entriickt ist, ist er be- wufStlos. Bei einem Schiiler ist das nicht mehr der Fall, wenn er die vorgenannte Stufe erreicht hat. Ununterbrochen, Tag und Nacht lebt der Schiiler in vollem, klarem Bewufitsein, auch wenn der phy- sische Leib ruht. Nach einiger Zeit kiindigt sich der Eintritt in einen neuen, bestimmten Zustand dadurch an, dafi zu dem Tagesbewufk- sein, zu den Bildern Tone und Worte hinzutreten. Die Bilder reden und sagen ihm etwas; sie reden eine ihm verstandliche Sprache. Sie sagen, was sie sind; da ist dann iiberhaupt keine Tauschung mehr moglich. Das ist das devachanische Tonen und Sprechen, die Spha- renmusik. Ein jedes Ding spricht dann seinen eigenen Namen aus und sein Verhaltnis zu den anderen Dingen. Das kommt dann zum astralischen Schauen hinzu, und das ist der Eintritt des Hellsehers in Devachan. Hat der Mensch diesen devachanischen Zustand erlangt, dann fangen die Lotusblumen, die Chakrams oder Rader, an gewis- sen Stellen im Astralleib an, sich wie der Zeiger einer Uhr von links nach rechts zu drehen. Sie sind die Sinnesorgane des Astralleibes, aber ihr Wahrnehmen ist ein aktives. Das Auge zum Beispiel ist in Ruhe, es lafit das Licht in sich hereinkommen und nimmt es dann wahr. Dagegen nehmen die Lotusblumen erst dann wahr, wenn sie sich bewegen, wenn sie einen Gegenstand umfassen. Durch das Drehen der Lotusblumen werden Schwingungen in der Astralmate- rie erregt, und so entsteht die Wahrnehmung auf dem Astralplan. Welches sind nun die Krafte, welche die Lotusblumen ausbilden? Woher kommen diese Krafte? Wir wissen, dafi wahrend des Schlafes die verbrauchten Krafte des physischen und atherischen Korpers von dem Astralleibe wieder ersetzt werden; durch seine Regelmafiig- keit kann er im Schlafe Unregelmafiigkeiten des physischen und atherischen Leibes ausgleichen. Diese Krafte aber, welche zur Uber- windung der Ermudung verwendet werden, sind es, die die Lotus- blumen ausbilden. Ein Mensch, der seine okkulte Entwickelung an- fangt, entzieht also dadurch eigentlich seinem physischen und athe- rischen Leibe Krafte. Wiirden diese Krafte dauernd dem physischen Leibe entzogen werden, so miifke der Mensch erkranken, ja, es wiir- de sogar eine vollige Erschopfung eintreten. Will er sich also phy- sisch und moralisch nicht schadigen, so mufi er diese Krafte durch etwas anderes ersetzen. Man muS eingedenk sein einer allgemeinen Weltregel: Rhyth- mus ersetzt Kraft! Das ist ein wichtiger okkulter Grundsatz. Heute lebt der Mensch hdchst unregelmafiig, namentlich im Vorstellen und Handeln. Ein Mensch, der blofi die zerstreuende Aufienwelt auf sich einwirken liefie und mitmachen wtirde, konnte dieser Gefahr, in die sein physischer Leib durch die okkulte Entwickelung wegen der Kraftentziehung gestiirzt wird, nicht entgehen. Deshalb mufi der Mensch daran arbeiten, dafi Rhythmus in sein Leben hinein- kommt. Naturlich kann er es nicht so einrichten, daf$ ein Tag wie der andere veriauft. Aber eines kann er tun: Gewisse Tatigkeiten kann er ganz regelmafiig ausfuhren, und das mufi nun derjenige tun, der eine okkulte Entwickelung durchmacht. So zum Beispiel sollte er jeden Morgen Meditations- und Konzentrationsiibungen zu einer von ihm selbst festgesetzten Zeit verrichten. Rhythmus kommt auch durch eine Abendriickschau iiber den Tag in sein Leben hin- ein. Kann man dann noch andere Regelmafiigkeiten einfiihren, so ist dies um so besser, denn so lauft alles sozusagen im Sinne der Weltge- setze ab. Das ganze Weltensystem verlauft ja rhythmisch. Alles in der Natur ist Rhythmus: der Gang der Sonne, der Verlauf der Jah- reszeiten, von Tag und Nacht und so weiter. Die Pflanzen wachsen rhythmisch. Allerdings, je hoher wir steigen, desto weniger pragt sich der Rhythmus aus, aber selbst bei den Tieren kann man noch einen gewissen Rhythmus wahrnehmen. Das Tier begattet sich zum Beispiel noch zu regelmafiigen Zeiten. Nur der Mensch kommt in ein unrhythmisches, chaotisches Leben hinein: Die Natur hat ihn entlassen. Dieses chaotische Leben mufi er nun ganz bewufit wiederum rhythmisch gestalten, und um das zu erreichen, werden ihm be- stimmte Mittel an die Hand gegeben, durch die er Harmonie und Rhythmus in seinen physischen und atherischen Leib hineinbringen kann. Nach und nach werden diese in regelmafiige Schwingungen versetzt, so dafi sie sich auch beim Heraustreten des Astralleibes selbst korrigieren. Wenn sie bei Tage auch aus dem Rhythmus her- ausgetrieben waren, so drangen sie in der Ruhe von selbst wieder in die richtige Bewegung. Diese Mittel bestehen in den folgenden sechs Ubungen, die neben der Meditation ausgefuhrt werden miissen: Gedankenkontrolle. Sie besteht darin, dafi man wenigstens fur kurze Zeiten des Tages nicht alles mogliche durch die Seele irrlichte- lieren lafit, sondern einmal Ruhe in seinem Gedankenlaufe eintreten lafk. Man denkt an einen bestimmten Begriff, stellt diesen Begriff in den Mittelpunkt seines Gedankenlebens und reiht hierauf selbst alle Gedanken logisch so aneinander, dafi sie sich an diesen Begriff an- lehnen. Und wenn das auch nur eine Minute geschieht, so ist es schon von grofier Bedeutung fur den Rhythmus des physischen und Atherleibes. Initiative des Handelns, das heifit, man mufi sich zwingen zu wenn auch unbedeutenden, aber aus eigener Initiative entsprunge- nen Handlungen, zu selbst auferlegten Pflichten. Die meisten Ursa- chen des Handelns liegen in Familienverhaltnissen, in der Erzie- hung, im Berufe und so weiter. Bedenken Sie nur, wie wenig eigent- lich aus der eigenen Initiative hervorgeht! Nun mufi man also kurze Zeit darauf verwenden, Handlungen aus der eigenen Initiative her- vorgehen zu lassen. Das brauchen durchaus nicht wichtige Dinge zu sein; ganz unbedeutende Handlungen erfiillen denselben Zweck. Gelassenheit. Das dritte, um was es sich handelt, kann man nen- nen Gelassenheit. Da lernt man den Zustand des Hin- und Her- schwankens zwischen «himmelhoch jauchzend» und «zum Tode be- trubt» regulieren. Wer das nicht will, weil er glaubt, dafi dadurch sei- ne Ursprunglichkeit im Handeln oder sein kiinstlerisches Empfin- den verlorengehe, der kann eben keine okkulte Entwickelung durchmachen. Gelassenheit heifit, Herr sein gegeniiber der hochsten Lust und dem tiefsten Schmerz. Ja, man wird fiir die Freuden und Leiden in der Welt erst dann richtig empfanglich, wenn man sich nicht mehr verliert im Schmerz und in der Lust, wenn man nicht mehr egoistisch darin aufgeht. Die grofiten Kunstler haben gerade durch diese Gelassenheit am meisten erreicht, weil sie sich dadurch die Seele aufgeschlossen haben fiir subtile und innere wichtige Dinge. Unbefangenheit. Das vierte ist, was man als Unbefangenheit be- zeichnen kann. Das ist diejenige Eigenschaft, die in alien Dingen das Gute sieht. Sie geht iiberall auf das Positive in den Dingen los. Als Beispiel konnen wir am besten eine persische Legende anfuhren, die sich an den Christus Jesus kniipft: Der Christus Jesus sah einmal ei- nen krepierten Hund am Wege liegen. Jesus blieb stehen und be- trachtete das Tier, die Umstehenden aber wandten sich voll Ab- scheu weg ob solchen Anblicks. Da sagte der Christus Jesus: Oh, welch wunderschone Zahne hat das Tier! - Er sah nicht das Schlech- te, das Hafiliche, sondern fand selbst an diesem eklen Kadaver noch etwas Schones, die weifien Zahne. Sind wir in dieser Stimmung, dann suchen wir in alien Dingen die positiven Eigenschaften, das Gute, und wir konnen es iiberall finden. Das wirkt in ganz machti- ger Weise auf den physischen und Atherleib ein. Glaube. Das nachste ist der Glaube. Glauben driickt im okkulten Sinne etwas anderes aus, als was man in der gewohnlichen Sprache darunter versteht. Man soil sich niemals, wenn man in okkulter Ent- wickelung ist, in seinem Urteil durch seine Vergangenheit die Zu- kunft bestimmen lassen. Bei der okkulten Entwickelung mufi man unter Umstanden alles aufier acht lassen, was man bisher erlebt hat, um jedem neuen Erleben mit glaubiger Stimmung gegenuberstehen zu konnen. Das mufi der Okkultist bewufit durchfuhren. Wenn einer zum Beispiel kommt und sagt: Der Turm der Kirche stent schief, er hat sich um 45 Grad geneigt - so wiirde jeder sagen: Das kann nicht sein. - Der Okkultist mufi sich aber noch ein Hintertiir- chen of fen lassen. Ja, er mufi so weit gehen, dafi er jedes in der Welt Erfolgende, was ihm entgegentritt, glauben kann, sonst verlegt er sich den Weg zu neuen Erfahrungen. Man mufi sich frei machen fur neue Erfahrungen; dadurch werden der physische und der Atherleib in eine Stimmung versetzt, die sich vergleichen la'fit mit der wolliisti- gen Stimmung eines Tierwesens, das ein anderes ausbniten will. Inneres Gleichgewicht. Und dann folgt als nachste Eigenschaft inneres Gleichgewicht. Es bildet sich durch die fiinf anderen Eigen- schaften nach und nach ganz von selbst heraus. Auf diese sechs Ei- genschaften mufi der Mensch bedacht sein. Er mufi sein Leben in die Hand nehmen und langsam fortschreiten im Sinne des Wortes: Steter Tropfen hohlt den Stein. Eignet sich nun ein Mensch durch irgendwelche magischen Kunstgriffe hohere Krafte an, ohne dies zu beriicksichtigen, so ist er in einer iiblen Lage. Im jetzigen Leben ist das Geistige und Leibliche so durcheinandergemischt, wie etwa in einem Glase eine blaue und eine gelbe Fliissigkeit. Mit der okkulten Entwickelung beginnt nun etwas, was dem Vorgange ahnelt, wenn der Chemiker diese beiden Fliissigkeiten trennt. Ahnlich wird Seelisches und Leibliches ge- schieden. Damit verliert der Mensch aber die Wohltaten dieser Mi- schung. Der gewohnliche Mensch ist dadurch, dafi die Seele im phy- sischen Leib steckt, keinen Leidenschaften unterworfen, die allzu grotesk sind. Durch diese Trennung aber kann es nun vorkommen, dafi der physische Leib sich selbst uberlassen wird mit seinen Eigen- schaften, und das kann zu allerlei Exzessen fiihren. So kann es vor- kommen bei einem Menschen, der in okkulter Entwickelung begrif- fen ist, wenn er nicht darauf achtet, moralische Eigenschaften zu fordern, dafi dann tatsachlich schlechte Eigenschaften zutage treten, die sich sonst nicht gezeigt haben wiirden. Er wird plotzlich liigne- risch, jahzornig, rachsiichtig; alle moglichen Eigenschaften, die vor- her gemildert waren, treten krafi heraus. Ja, das kann schon vor- kommen, wenn sich jemand ohne moralische Entwickelung zuviel mit den Weisheitslehren der Theosophie beschaftigt. Wir haben gesehen, dafi der Mensch zunachst durch die Stuf e des Schauens durchgeht und dann erst auf die Stufe des geistigen Horens kommt. Wahrend man nun auf der Stufe des Schauens ist, mufi man nattirlich zuerst lernen, wie die Bilder sich zu den Gegenstanden ver- halten. Man wiirde in das sturmische Meer astraler Erlebnisse hin- eingedrangt, wenn man sich ihm ohne weiteres uberliefie. Deshalb braucht man einen Fiihrer, der einem beim Eintritt sagt, wie die Dinge zusammenhangen und wie man sich da zurechtfindet. Darauf griindet sich die Notwendigkeit, dafi man sich streng auf den Guru verlaftt. Nach dieser Richtung unterscheidet man drei verschiedene Entwickelungen: Die orientalische, die man auch die Yoga-Entwickelung nennt, ist eine solche, in der ein einzelner, auf dem physischen Plan lebender eingeweihter Mensch der Fiihrer, der Guru eines andern ist und dieser sich vollstandig und auch in alien Einzelheiten auf den Guru verlaik. Das erreicht man am besten, wenn man fur die Zeit der Entwickelung sein eigenes Selbst ganz ausschaltet und es dem Guru hingibt. Der Guru mufi sogar Rat erteilen bei der Initiative des Handelns. Fur ein solches restloses Aufgehen des eigenen Selbstes ist die indische Natur geeignet; die europaische Kultur laik eine derartige Hingabe gar nicht zu. Die christliche Entwickelung setzt an Stelle des einzelnen Guru den einen grofien Fiihrer der Menschheit, den Christus Jesus selbst. Das Gefuhl der Zusammengehorigkeit zu diesem Christus Jesus, das Einssein mit ihm, kann die Hingabe an einen einzelnen Guru erset- zen. Aber man mufi durch einen irdischen Lehrer erst zu ihm hinge- fiihrt werden. Auch da ist man in gewisser Weise abhangig von dem Lehrer, dem Guru auf dem physischen Plane. Am unabhangigsten ist man bei der rosenkreuzerischen Schu- lung. Der Guru ist da nicht mehr der Fiihrer, er ist der Ratgeber. Er ist derjenige, der einem Anweisungen gibt, was man innerlich tun soil. Zugleich sorgt er auch dafur, daft parallel mit der okkulten Schulung eine entschiedene Schulung des Denkens geht, ohne die man eine solche okkulte Schulung nicht durchmachen kann. Das kommt daher, dafi das Denken eine Eigenschaft hat, die die anderen Dinge nicht haben. Sind wir zum Beispiel auf dem physischen Pla- ne, dann nehmen wir mit den physischen Sinnen wahr, was sich auf dem physischen Plane befindet, nichts anderes. Auf dem Astralplan gelten die astralen Wahrnehmungen, und das devachanische Horen gilt nur im Devachan; kurz, jeder Plan hat seine eigenen Wahrneh- mungen. Eines aber zieht sich durch alle Welten hindurch, und das ist das logische Denken. Die Logik ist dieselbe auf alien drei Planen. So kann man auf dem physischen Plane etwas lernen, was auch fur die hoheren Plane Gultigkeit hat, und diese Methode beobachtet die rosenkreuzerische Entwickelung, indem sie auf dem physischen Plan das Denken vorzugsweise schult mit den Mitteln des physi- schen Planes. Ein eindringliches Denken wird schon ausgebildet durch das Lernen theosophischer Wahrheiten oder auch durch di- rekte Denkubungen. Will man den Intellekt noch mehr schulen, dann kann man Bucher studieren, wie «Die Philosophic der Frei- heit», «Wahrheit und Wissenschaft», die mit Absicht so geschrieben sind, dafi ein durch sie geschultes Denken sich absolut sicher auf den hochsten Planen bewegen kann. Es konnte sogar jemand, der diese Schriften studiert und gar nichts von Theosophie wiifite, sich da- durch in den hoheren Welten orientieren. Aber wie gesagt, auch die theosophischen Lehren wirken in derselben Weise. Das ist das Sy- stem der Rosenkreuzerschulung. Im eigenen scharfen Denken hat man den wahrsten inneren Fiihrer. Da ist dann der Guru nur noch der Freund des Schulers, der Ratschlage gibt, denn den besten Guru erzieht man in sich selbst in der eigenen Vernunft. Man braucht natiirlich den Guru auch hier, weil er die Ratschlage geben mufi, wie man selbst zur freien Entwickelung kommt. In der europaischen Bevolkerung ist der christliche Weg der ge- eignete fur diejenigen, die mehr das Gefiihl ausgebildet haben. Dieje- nigen, die sich von der Kirche mehr oder wemger losgesagt haben, die mehr auf dem Boden der Wissenschaft stehen und wegen der Wissenschaft in Zweifel gekommen sind, gehen am besten den rosen- kreuzerischen Weg. DREI2EHNTER VORTRAG Stuttgart, 3. September 1906 Gestern haben wir damit geschlossen, dafi wir die drei Methoden der okkulten Entwickelung in ihren wesentlichen Ziigen skizzier- ten: die orientalische, die christliche und die sogenannte rosenkreu- zerische Schulung. Heute nun wollen wir damit beginnen, etwas na- her auf die Einzelheiten einzugehen, die das Charakteristische jedes dieser drei Wege ausmachen. Vorher jedoch mochte ich noch bemerken, daft in keiner okkul- ten Schule die Sache so aufzufassen ist, als ob das, was gesagt und ge- fordert wird, irgendwie als ein sittliches Gebot fur die ganze Menschheit gelten konnte. Das ist durchaus nicht der Fall; nur fur denjenigen, der sich wirklich einer solchen okkulten Entwickelung widmen will, gelten diese Forderungen. Man kann beispielsweise ein sehr guter Christ sein und das, was die christliche Religion fur den Laien empfiehlt, ganz erfullen, ohne eine christliche okkulte Schu- lung durchzumachen. Wenn zum Beispiel jemand sagt: Man kann doch auch ohne okkulte Schulung ein guter Mensch sein und zu ei- ner Art hoherem Leben kommen -, so ist dagegen nichts einzuwen- den; das ist selbstverstandlich. Ich sagte Ihnen schon, daft innerhalb der orientalischen Schulung eine strenge Unterwerfung unter den Guru stattfindet. Ich will Ih- nen nun die Art der Anweisung, die der Lehrer innerhalb einer orientalischen Schulung gibt, angeben. Man kann begreiflicherweise offentlich keine Anweisungen geben, sondern nur den Weg charak- terisieren. Diejenigen Dinge, die als Anweisungen von dem Lehrer gegeben werden, kann man in acht Gruppen einteilen: 1. Yama 2. Niyama 3. Asanam 4. Pranayama 5. Pratyahara 6. Dharana 7. Dhyanam 8. Samadhi 1. Yama schlieik alles ein, was wir die Unterlassungen nennen, welche dem obliegen, der eine Yoga-Schulung durchmachen will; und das wird naher ausgedriickt in den Geboten: «Nicht liigen - Nicht toten - Nicht stehlen - Nicht ausschweifen - Nicht begehren.» Die Forderung «Nicht toten» ist eine sehr strenge und bezieht sich auf alle Wesen. Kein lebendes Wesen darf getotet oder auch nur beeintrachtigt werden, und je strenger dies befolgt wird, desto wei- ter fuhrt es. Etwas anderes ist es, ob man dies auch in unserer Kultur durchfiihren kann. Jedes Toten, auch das einer Wanze, beeintrach- tigt die okkulte Entwickelung. Ob es einer aber doch tun mufi, das ist eine andere Frage. «Nicht liigen» ist eine Forderung, die Ihnen schon verstand- licher sein wird aus dem, was ich Ihnen iiber den Astralplan gesagt habe. Auf dem Astralplan ist liigen dasselbe wie toten, ist jede Luge ein Mord; also fallt es eigentlich in dasselbe Kapitel wie toten. «Nicht stehlen», auch das muli im strengsten Sinne durchgefuhrt werden. Der Europaer wird sagen: Wir stehlen nicht. - Aber der orientalische Yogi versteht die Sache nicht so einfach. In den Gebie- ten, wo zuerst diese Ubungen ausgebreitet worden sind von den gro- fien Lehrern der Menschheit, waren die Verhaltnisse viel einfacher; da konnte man den Begriff des Stehlens leicht feststellen. Aber ein Yoga-Lehrer wird Ihnen nicht zugeben, daft ein Europaer nicht stiehlt, er nimmt das sehr streng. Wenn ich mir zum Beispiel die Ar- beitskraft eines anderen aneigne, wenn ich mir einen Vorteil ver- schaffe, der wohl gesetzlich erlaubt ist, der aber eine Ausbeutung ei- nes anderen bedeutet, so bezeichnet der Yoga-Lehrer das als Stehlen. Bei uns liegen die Dinge in unseren sozialen Verhaltnissen so kom- pliziert, daft viele gegen dies Verbot verstofien, ohne das allergering- ste Bewufitsein davon zu haben. Denken Sie, Sie haben ein Vermo- gen und Sie hinterlegen das in einer Bank. Sie tun nichts damit, beu- ten niemanden aus. Nun aber geht der Bankier hin, treibt Spekula- tionen und beutet so andere Menschen mit Ihrem Gelde aus. Auch da sind Sie im okkulten Sinne verantwortlich, es belastet Ihr Karma. Sie sehen daraus, dafi dieses Gebot bei einer okkulten Entwickelung ein tiefes Studium erfordert. Ebenso kompliziert stellen sich die Verhaltnisse beim «Nicht ausschweifen», Ein Rentner zum Beispiel, dessen Kapital durch eine Bank ohne sein Wissen in Schnapsbrennereien angelegt ist, macht sich ebenso schuldig wie ein Fabrikant, der Spirituosen verfertigt. Das Nichtwissen andert nichts am Karma. Es gibt nur eines, was ei- ne gerade Richtung geben kann bei diesen Unterlassungen, das ist: nach Bediirfnislosigkeit streben. In demselben Mafie, wie man nach Bediirfnislosigkeit strebt, kann man nie jemand anderen schadigen. Besonders schwer ist das «Nichts begehren» durchzufuhren. Es bedeutet, nach voller Bediirfnislosigkeit zu streben, mit keiner Be- gierde an etwas in der Welt heranzutreten, sondern nur das zu tun, was die Aufienwelt von uns fordert. Ja, ich mu!5 selbst mein Wohlge- fiihl unterdriicken, wenn ich jemand eine Wohltat erweise; nicht dieses Gefiihl, sondern der Anblick des Leidenden mufi mich bewe- gen, zu helfen. Auch sonst, wenn ich zum Beispiel selbst eine Aufwen- dung machen mufi, darf ich nicht denken: Ich will, ich wiinsche, ich begehre das, sondern ich mufi mir sagen: Das brauchst du zur Unter- haltung deines Leibes oder fur die Bedurfnisse deines Geistes, das braucht auch jeder andere; du begehrst es nicht, sondern du denkst nur nach, wie du am besten durch die Welt kommst. - Innerhalb der Yoga-Lehre wird der Begriff Yama, wie gesagt, aufierordentlich streng gefafit und kann nicht ohne weiteres nach Europa verpflanzt werden. 2. Niyama. Das bedeutet etwa die Einhaltung religioser Gebrau- che. In Indien, wo diese Regeln hauptsachlich angewendet werden, ist eine Frage gelost, die der europaischen Kultur viele Schwierigkei- ten bereitet. Man sagt leicht: Ich bin uber die Dogmen hinaus, ich halte mich nur an die innere Wahrheit und gebe nichts auf aufierli- che Formen. - Je mehr er iiber religiose Gebrauche hinauskommen kann, desto erhabener diinkt sich der Europaer. Der Hindu denkt entgegengesetzt und halt fest an den Ritualien seiner Religion; nie- mand darf daran riihren. Welche Meinung aber man sich dariiber bildet, das steht in der Hindureligion jedem ganz frei. Es bestehen uralte heilige Riten, die etwas sehr Tiefes bedeuten. Ein Ungebilde- ter wird sich davon eine sehr elementare Vorstellung machen, ein Mensch mit grofierer Bildung macht sich eine andere, bessere Vor- stellung, aber keiner wird sagen, dafi die Vorstellung des andern falsch sei. Der Weise befolgt denselben Brauch wie der weniger Ge- bildete. Dogmen gibt es nicht, aber Riten. Auf diese Weise konnen die tief-religiosen Brauche vom Weisen und vom Unweisen befolgt werden, beide konnen sich im Ritus vereinigen. So sind die Riten ein Bindemittel fiir die Bevolkerung; niemand wird in seiner Mei- nung beengt dadurch, dafi er sich in ein strenges Ritual einfugt. Die christliche Kirche hat das entgegengesetzte Prinzip verfolgt; nicht Brauche, sondern Meinungen hat man den Leuten aufgenotigt, und die Folge ist, dafi in der neueren Zeit die Formlosigkeit in unse- rem sozialen Zusammenleben Gesetz geworden ist. Da beginnt das volistandige Aufter-acht-Lassen aller Brauche, die die Menschen ver- binden wiirden; alle Formen, die sinnbildlich hohere Wahrheiten ausdriicken, werden allmahlich abgeschafft. Das ist ein grofier Scha- den fiir die gesamte Entwickelung des Menschen, hauptsachlich fiir die okkulte Entwickelung im orientalischen Sinne. Viele glauben heute in der europaischen Bevolkerung, uber Dog- men hinaus zu sein, aber gerade die Freidenker und Materialisten sind die argsten Dogmenfanatiker. Das materialistische Dogma ist noch viel driickender als jedes andere. Die Unfehlbarkeit des Papstes gilt fur viele nicht mehr, wohl aber die Unfehlbarkeit des Universi- tatsprofessors. Auch der Liberalste ist, trotz der gegenteiligen Be- hauptungen, den Dogmen des Materialismus unterworfen. Welche Dogmen lasten zum Beispiel auf dem Juristen, Mediziner und so weiter. Jeder Universitatsprofessor lehrt sein Dogma. Oder auch: Wie schwer lastet auf einem das Dogma der Unfehlbarkeit der 6f- fentlichen Meinung, der Tageszeitung! Der orientalische Yoga- Lehrer fordert, nicht herauszutreten aus den Formen, die ein Binde- glied sind fiir Weise und Unweise, denn diese uralten heiligen For- men sind die Bilder der hochsten Wahrheiten. Ohne Formen gibt es keine Kultur; es ist eine Tauschung, wenn man das Gegenteil glaubt. Nehmen wir zum Beispiel an, es griinde jemand eine Kolonie, ganz formlos, ohne Gesetze, ohne Riten und religiose Gebrauche. Fiir den, der die Dinge durchschaut, ist es klar, dafi eine solche Kolonie eine Zeitlang ganz gut bestehen kann, weil die Leute noch nach den alten Formen leben, die sie mitgebracht haben. Aber sobald sie diese verlieren, geht die Kolonie zugrunde, denn ohne Formen kann auf die Dauer keine solche Kolonie bestehen. Alle Kultur mufi aus der Form herausgeboren werden. Das Innere mufi aufierlich durch For- men ausgedriickt werden. Die moderne Kultur hat die Formen verlo- ren; sie mu£ sie wieder gewinnen. Sie mufi wieder lernen, auch aufier- lich auszudriicken, was im Innern der Seele lebt. Die Form bedingt auf die Dauer das menschliche Zusammenleben. Das wufiten die alten Weisen, und deswegen hielten sie fest an der Ausiibung religio- ser Brauche, 3. Asanam bedeutet das Einnehmen einer gewissen Korperstel- lung bei der Meditation. Das ist fur den Orientalen viel wichtiger als fur den Europaer, weil der Korper des Europaers fur gewisse feine Stromungen nicht mehr so sensitiv ist. Der orientalische Leib ist noch feiner, er empfindet leicht Stromungen, die von Ost nach West, von Nord nach Slid und aus der Hohe in die Tiefe gehen; denn im Weltall fluten geistige Strome. Aus diesem Grunde wurden die Kirchen zum Beispiel in einer bestimmten Richtung gebaut. Des- halb lafit der Yoga-Lehrer den Yogi eine bestimmte Stellung einneh- men; der Schuler mufi die Hande und Fufie in einer bestimmten Stellung haben, damit die Strome in geregelter Weise durch den Kor- per hindurchgehen konnen. Wiirde der Hindu seinen Korper nicht in diese Harmonie einfugen, so wiirde er die Fruchte seiner Medita- tion vollig aufs Spiel setzen. 4. Pranayama ist das Atmen, das Yoga-Atmen. Das ist ein sehr we- sentlicher und ausfuhrlicher Bestandteil der orientalischen Yoga- Schulung. Es kommt fast gar nicht in Betracht bei der christlichen Schulung, hingegen wieder mehr bei der Rosenkreuzer-Schulung. Was bedeutet das Atmen fur die okkulte Entwickelung? Die Be- deutung des Atmens liegt schon in dem «Nicht toten», «Nicht das Leben beeintrachtigen». Der okkulte Lehrer sagt: Du totest fort- wahrend langsam deine Umgebung durch das Atmen. - Wieso? Wir ziehen den Atem ein, halten ihn an, versorgen unser Blut mit Sauer- stoff und stofien den Atem dann wieder aus. Was geschieht dabei? Wir atmen die mit Sauerstoff erfiillte Luft ein, verbinden sie in uns mit Kohlenstoff und atmen Kohlensaure aus; darin aber kann kein Mensch oder Tier leben. Sauerstoff atmen wir ein, Kohlensaure, den Giftstoff, atmen wir aus; wir toten also mit jedem Atemzug fort- wahrend andere Wesen. Stiickweise toten wir unsere ganze Umge- bung. Wir atmen Lebensluft ein und atmen Luft aus, die wir selbst nicht mehr brauchen konnen. Der okkulte Lehrer ist darauf be- dacht, das zu andern. Wenn es nur auf die Menschen und auf die Tiere ankame, so ware bald aller Sauerstoff aufgebraucht und alles Lebendige ausgestorben. Dafi wir die Erde nicht zugrunde richten, das verdanken wir den Pflanzen, denn diese machen genau den ent- gegengesetzten Prozefi durch. Sie assimilieren die Kohlensaure, tren- nen den Kohlenstoff vom Sauerstoff und bauen aus dem ersteren ihren Korper auf. Den Sauerstoff geben sie wieder frei, und diesen atmen Mensch und Tier ein. So erneuern die Pflanzen die Lebens- luft; alles Leben wiirde ohne sie schon langst vernichtet sein. Ihnen verdanken wir unser Leben. So erganzen sich also Pflanze, Tier und Mensch gegenseitig. Dieser Prozefi wird aber in der Zukunft anders werden, und da derjenige, der in okkulter Entwickelung begriffen ist, mit dem be- ginnt, was die anderen einmal in der Zukunft durchmachen werden, so mu£ er sich entwohnen, durch den Atem zu toten. Das ist Pra- nayama, die Wissenschaft des Atmens. Unser modernes materialisti- sches Zeitalter braucht immer offene Fenster und stellt frische Luft als Heilmittel in die erste Reihe. Beim indischen Yogi ist das Gegen- teil der Fall. Er schliefk sich in eine Hohle ein und atmet so viel als immer moglich seine eigene Luft. Der Yogi hat die Kunst gelernt, die Luft so wenig wie moglich zu verpesten, weil er gelernt hat, die Luft auszunutzen. Wie macht er das? Dieses Geheimnis war in den euro- paischen Geheimschulen immer bekannt, man nannte es das Errei- chen des Steins der Weisen oder des Steins der Philosophen. Wenn man den Stein der Weisen finden will, mufi man das Geheimnis des Atmens finden. Um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert sickerte manches da- von durch. Da wurde viel von dem Stein der Weisen in offentlichen Schriften geschrieben, aber man merkt, daft die Verfasser selbst nicht viel davon verstanden, wenn auch alles aus richtiger Quelle stammte. In einer Thiiringer Staatszeitung erschien im Jahre 1796 ein Artikel uber den Stein der Weisen, in dem unter anderm folgen- des gesagt wurde: Der Stein der Weisen ist etwas, das man nur ken- nen muft, denn gesehen hat es jeder Mensch. Es ist etwas, was alle Menschen eine gewisse Zeit hindurch fast jeden Tag in die Hand nehmen, was man iiberall finden kann, nur wissen die Menschen nicht, daft es der Stein der Weisen ist. - Das ist eine geheimnisvolle Andeutung: Uberall soil der Stein der Weisen zu finden sein. Aber diese sonderbare Ausdrucksweise ist wortlich wahr. Die Sache ist namlich so: Wenn die Pflanze ihren Leib bildet, nimmt sie die Kohlensaure auf und behalt den Kohlenstoff zuriick, aus dem sie sich ihren Korper aufbaut. Mensch und Tier essen nun die Pflanze, nehmen dadurch den Kohlenstoff in sich wieder auf und geben ihn im Atem als Kohlensaure wieder ab. So besteht ein Kreis- lauf des Kohlenstoffes. In der Zukunft wird es anders sein. Da wird der Mensch lernen, sein Selbst immer mehr zu erweitern und das, was er jetzt der Pflanze iiberlaftt, das wird er selbst einmal zustande bringen. Wie der Mensch durch das Mineral- und Pflanzenreich hin- durchgeschritten ist, so schreitet er auch wiederum zuriick. Er selbst wird Pflanze, nimmt das Pflanzendasein in sich auf und wird den ganzen Prozeft in sich selbst durchmachen: Er wird den Kohlenstoff in sich behalten und bewuftt damit seinen Korper aufbauen, wie es heute die Pflanze unbewufit tut. Den notwendigen Sauerstoff berei- tet er dann sich selbst in seinen Organen, verbindet ihn mit dem Kohlenstoff zur Kohlensaure und lagert dann in sich selbst den Kohlenstoff wieder ab. Damit kann er also an seinem korperlichen Geriist selbst fortbauen. Das ist eine grofte perspektivische Idee der Zukunft. Dann totet er nichts anderes mehr. Nun ist bekanntlich Kohlenstoff und Diamant derselbe Stoff. Diamant ist kristallisierter, durchsichtiger Kohlenstoff. Also brau- chen Sie nicht zu denken, daft der Mensch spater als Schwarzer her- umlaufen wird, sondern sein Leib wird aus durchsichtigem, und zwar weichem Kohlenstoff bestehen. Dann hat er den Stein der Wei- sen gefimden. Er verwandelt seinen eigenen Leib in den Stein der Weisen. Diesen Prozefi mufi derjemge, der sich okkult entwickelt, so viel als moglich vorausnehmen, das heifit, er mufi seinem Atem die Fa- higkeit zu toten nehmen. Er mufi ihn so ges taken, dafi die ausgeat- mete Luft wieder brauchbar wird, so dafi er sie immer wieder einat- men kann. Und wodurch geschieht das? Dadurch, dafi man in den Atmungsprozefi Rhythmus hineinbringt. Dazu gibt der Lehrer An- weisung. Einatmen, Atemanhalten und Ausatmen, darin mufi, wenn auch nur fiir kurze Zeit, Rhythmus liegen. Mit jedem rhyth- misch ausgeatmeten Atemzug wird die Luft verbessert, ganz lang- sam, aber sicher. Man kann fragen: Was macht das aus? - Hier gilt der Satz: Steter Tropfen hohlt den Stein. Jeder Atemzug ist solch ein Tropfen. Der Chemiker kann das noch nicht nachweisen, weil seine Mittel zu grob sind, um die feinen Stoffe wahrzunehmen, aber der Okkultist weifi, dafi dadurch in der Tat der Atem lebensfordernd wird und mehr Sauerstoff enthalt als unter gewohnlichen Umstan- den. Nun wird aber der Atem gleichzeitig noch durch etwas anderes rein gemacht, namlich durch Meditieren. Auch dadurch wird, wenn auch nur aufierst wenig, dazu beigetragen, dafi die Pflanzennatur wieder hereingenommen wird in die menschliche Natur, so dafi der Mensch zu dem Nicht-Toten kommt. 5. Pratyahara. Das nachste ist das Pratyahara; das bedeutet die Zugelung der Sinneswahrnehmung. Der Mensch, der im heutigen Sinne ein alltagliches Leben fuhrt, empfangt bald da einen Eindruck, bald dort, und so immerfort; er lafit alles auf sich einwirken. Dem Schiiler sagt nun der okkultistische Lehrer: Du mufit so und so viele Minuten lang einen Sinneseindruck festhalten und darfst nicht iiber- gehen zu einem anderen als durch eigenen freien Willen. 6. Wenn er das eine Weile durchgefuhrt hat, mufi er dazu kom- men konnen, gegen jeden aufieren Sinneseindruck taub und blind zu werden; er mufi dazu kommen, uberhaupt von jedem aufieren Sin- neseindruck abzusehen und nur das festzuhalten, was als Vorstel- lung in den Gedanken zuriickbleibt, nachdem der Sinneseindruck selbst beseitigt ist. Wenn man so nur in Vorstellungen lebt, sein Den- ken streng kontrolliert und nur aus freiem Willen eine Vorstellung an die andere reiht, dann ist das der sechste Zustand: Dharana. 7. Dhyanam. Nun gibt es Vorstellungen, von denen der Europa- er nicht zugeben will, dafi sie gar nicht von Sinneseindriicken her- riihren, sondern dafi der Mensch sie selbst bilden mufi, zum Beispiel mathematische oder geometrische Vorstellungen. Ein Dreieck oder ein Kreis sind gedachte Vorstellungen. Das, was ich an die Tafel zeichne, sind doch nur zusammengesetzte Kreidepunkte. Nun gibt es eine Reihe von Vorstellungen, in denen der okkulte Schiller sich sehr iiben mufi. Das sind symbolische Zeichen, die bewufit mit ir- gendwelchen Dingen zusammenhangen, zum Beispiel das Hexa- gramm ]g^J , ein Zeichen, das im Okkultismus erklart wird; ebenso das Pentagramm "jSjf . Der Schiiler halt seinen Geist scharf auf sol- che Dinge gerichtet, die es in der Sinnenwelt nicht gibt. Ebenso ist es mit einer anderen Vorstellung, zum Beispiel die Gattung «L6we», die man auch nur denken kann. Auch auf solche Vorstellungen mufi der Schiiler seine Aufmerksamkeit richten. Schliefilich gibt es auch moralische Vorstellungen, wie zum Beispiel in «Licht auf den Weg»: Bevor das Auge sehen kann, mufi es der Tranen sich entwohnen. - Das kann man auch nicht aufien erleben, sondern nur in sich er- fahren. Dieses Meditieren iiber Vorstellungen, die kein sinnliches Gegenstiick haben, nennt man Dhyanam. 8. Samadhi. Und nun kommt das Schwerste: Samadhi. Man ver- tieft sich lange, lange in eine Vorstellung, die kein sinnliches Gegen- bild hat, man lafit den Geist gewissermafien darin ruhen und fiillt die Seele ganz damit aus. Dann lalk man diese Vorstellung fallen und hat dann nichts mehr im Bewufksein, aber man darf nicht einschla- fen, was beim gewdhnlichen Menschen sofort der Fall sein wiirde; man mu£ bewufk bleiben. In diesem Zustande fangen die Geheim- nisse der hoheren Welten an sich zu enthiillen. Man beschreibt die- sen Zustand in folgender Weise: Es bleibt ein Denken, das keine Ge- danken hat; man denkt, denn man ist bewulk, aber man hat keine Gedanken. Dadurch konnen die geistigen Machte ihren Inhalt in dieses Denken einstromen lassen. Solange man es selbst ausfullt, konnen sie nicht hinein. Je langer man im Bewufksein die Tatigkeit des Denkens ohne den Inhalt des Denkens festhalt, desto mehr offenbart sich die ubersinnliche Welt. Auf diesen acht Gebieten liegen die Anweisungen des Lehrers bei der orientalischen Yoga-Schulung. Nun werden wir noch, soweit es moglich ist, von der christli- chen Schulung sprechen, und es wird sich zeigen, wie sie sich von der Schulung des Orients unterscheidet. Diese christliche Schulung kann erfolgen auf den Rat eines Lehrers hin, der wei$, was zu tun ist, und der immer bei jedem Schritt zurechtriicken kann, was ver- f ehlt ist. Aber der grofie Guru ist der Christus Jesus selbst. Daher ist notwendig ein strenger Glaube an das wirkliche Vorhandensein und das wirkliche Gelebt-Haben des Christus Jesus. Ohne diesen Glau- ben ist ein Sich-Verbunden-Fiihlen mit ihm unmoglich. Weiter ist zu begreifen, dafi von diesem grofien Guru ein Dokument hernihrt, das selbst die Anleitung zur Schulung gibt, und das ist das Johannes-Evangelium. Das kann man auch innerlich erleben, nicht blofi aufterlich daran glauben, und wer es in richtiger Weise in sich aufgenommen hat, fur den gibt es keine Notwen- digkeit mehr, den Christus Jesus zu beweisen, weil er ihn gefun- den hat. Diese Schulung geht so vor sich, dafi man nicht blofi immer und immer wieder das Johannes-Evangelium liest, sondern dariiber me- ditiert. Das Johannes-Evangelium beginnt mit den Worten: «Im An- fang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort . . .» Diese Verse sind, richtig verstanden, ein Meditationsstoff, und sie miissen in einem Dhyanam-ahnlichen Zustand aufgenom- men werden. Wer morgens friih, bevor andere Eindriicke in seine Seele eingezogen sind, alles andere aus den Gedanken ausschliefk und fiinf Minuten lang einzig und allein in diesen Satzen lebt, und zwar fortgesetzt, jahrelang in absoluter Geduld und Ausdauer, der erlebt, dafi diese Worte nicht nur etwas sind, was man verstehen mufi; er erlebt, dafi sie eine okkulte Kraft haben, ja, er erlebt da- durch eine innere okkulte Umwandlung der Seele. Man wird in ge- wisser Weise hellsichtig durch diese Worte, so dafi man astral alles sehen kann, was im Johannes-Evangelium steht. Nach Anweisung des Lehrers lafk der Schiiler zuerst sieben Tage lang die ersten fiinf Satze des ersten Kapitels durch die Seele Ziehen. Die nachste Woche ebenso das zweite Kapitel, und so fort jedes ein- zelne Kapitel bis zum zwolften Kapitel. Man wird schon sehen, was man da Grofiartiges, Gewaltiges erlebt: wie man eingefiihrt wird in die Ereignisse von Palastina, wo Christus Jesus gelebt hat, wie sie in der Akasha-Chronik aufgezeichnet sind, und wie man dann tatsach- lich alles, was zu jener Zeit geschehen ist, erlebt. Und dann, wenn man am dreizehnten Kapitel angekommen ist, erlebt man die ein- zelnen Stationen der christlichen Einweihung. Die erste Station ist die sogenannte Fuilwaschung. Zuerst mufi man verstehen, was diese grofie Szene bedeutet. Der Christus Jesus neigt sich herunter zu denen, die niedriger sind als er. In der ganzen Welt mufke diese Demut gegenuber denen, die unter uns stehen und auf deren Kosten wir uns hoher entwickeln, vorhanden sein. Wenn die Pflanze denken konnte, miifite sie dem Stein danken dafiir, dafi er den Boden hergibt, auf dem sie ein hoheres Leben fiihren kann, und das Tier mufite sich zur Pflanze neigen und sagen: Dir verdanke ich die Moglichkeit, dafi ich bin -, und ebenso der Mensch der gan- zen iibrigen Natur. Und derjenige, der hoher steht in der mensch- lichen Gesellschaft, mufi sich herunterneigen zu den unter ihm Arbeitenden und sich sagen: Wenn nicht diese fleifiigen Hande die niedrige Arbeit fur mich verrichten wiirden, so konnte ich nicht ste- hen, wo ich stehe. - Keiner konnte sich hoher entwickeln, wenn nicht der Boden unter ihm bereitet ware. Und so ist es auch bis hin- auf zum Christus Jesus selbst, der sich in Demut zu den Aposteln herunterneigt und sagt: Ihr seid mein Boden, an euch erfulle ich den Satz: Derjenige aber, der sein will der Erste, der mufi der Letzte sein, und derjenige, der sein will der Herr, der mufi der Diener aller sein. - Die Fufiwaschung bedeutet das Gerne-dienen-Wollen, das Sichnei- gen in All-Demut. Das mulS die allgemeine Empfindung werden fur den okkult sich Entwickelnden. Hat der Schiiler sich mit dieser Demut ganz durchdrungen, dann hat er die erste Station der christlichen Einweihung erlebt. An einem aufieren und einem inneren Symptom erkennt er, dafi er so weit ist. Das aufiere Symptom dafiir ist: Er fiihlt seine Fiifie wie von Wasser umspiilt. Das innere Symptom ist eine astrale Vision, die ganz gewifi auftritt: Er sieht sich selbst einer Anzahl Menschen die Fiifie waschen. Dieses Bild taucht in seinen Traumen auf als astrale Vision, und jeder hat dieselbe Vision. Wenn er dieses erlebt, dann hat er dieses ganze Kapitel wirklich in sich aufgenommen. Es folgt alsdann als zweites die Geifielung. Ist man bis dahin vorgeschritten, dann mufi man, wahrend man die Geifielung liest und auf sich wirken lafit, ein anderes Gefiihl ausbilden. Man mu£ lernen, festzustehen bei den Geifielhieben des Lebens. Man sagt sich: Ich werde feststehen in alien Leiden und Schmerzen, in allem, was an mich herantritt. - Das aufiere Symptom dafur ist: Man fiihlt gleichsam einen punktweisen Schmerz am ganzen Korper. Das innere Symptom ist: Man sieht sich selbst gegeifielt in der Traumvision. Die dritte Station ist die Dornenkronung. Noch ein anderes Ge- fiihl muft hinzutreten: Man lernt standhaft aushalten, wenn man auch mit Spott und Hohn uberschiittet wird wegen des Heiligsten, das man besitzt. Das aufiere Symptom dafur ist, dafi man einen driickenden Kopfschmerz fiihlt. Das innere Symptom ist: Man sieht sich astral mit der Dornenkrone gekront. Dann kann man weitergehen zur vierten Station: der Kreuzi- gung. Ein neues, ganz bestimmtes Gefiihl mufi hier ausgebildet wer- den. Es beruht auf der Uberwindung dessen, dafi einem der eigene Korper das Wichtigste ist; er mufi einem so gleichgiiltig werden wie ein Stuck Holz. Wir tragen unsern Leib dann durchs Leben und betrachten ihn objektiv; er ist uns das Holz des Kreuzes geworden. Dabei braucht man ihn nicht zu verachten, so wenig wie ir- gendein Werkzeug. Die Reife zu dieser Stufe wird angezeigt durch das aufiere Symptom: Zur Zeit der Meditation treten genau an den Stellen, die man die Stellen der heiligen Wundmale nennt, rote Punkte stigmaartig hervor, und zwar an den Handen und Fii- fien und an der rechten Seite in der Hohe des Herzens. Das in- nere Symptom ist: Der Schiiler hat die Vision, selbst am Kreuze zu hangen. Die fiinfte Stufe ist der mystische Tod. Er besteht darin, daft der Mensch die Nichtigkeit des Irdischen erlebt, daft er tatsachlich fur eine Weile allem Irdischen abstirbt. Nunmehr konnen nur noch sparliche Schilderungen der christli- chen Einweihung gegeben werden. Der Mensch erlebt als eine astra- le Vision, daft iiberall Finsternis herrscht, daft die irdische Welt ver- sunken ist. Vor dem, was da kommen soil, breitet sich ein schwarzer Schleier wie ein Vorhang aus. Wahrend dieses Zustandes lernt er al- les kennen, was in der Welt an Bosem und Schlechtem existiert. Das ist das Hinabsteigen in die Holle, die Hollenfahrt. Dann erlebt er, daft der Vorhang wie entzweigerissen wird, und jetzt tritt die deva- chanische Welt hervor. Das ist das Zerreiften des Tempelvorhanges. Dann folgt die sechste Stufe, die Grablegung. So wie bei der vier- ten Stufe der eigene Korper objektiv wird, so mufi man hier das Ge- fuhl ausbilden, daft einem nicht nur der eigene Korper ein Objekt ist, sondern daft man alles andere, was uns auf der Erde umgibt, geradeso als zu sich gehorig empfindet wie den eigenen Korper. Da dehnt sich der eigene Korper iiber die Haut hinaus. Man ist nicht mehr ein abgesondertes Wesen, man ist vereint mit dem ganzen Erdenplaneten* Die Erde ist unser Korper geworden, man ist in der Erde begraben. Die siebente Stufe, die Auferstehung, kann nicht mit Worten ge- schildert werden. Man sagt daher im Okkultismus: Der siebente Zu- stand kann nur noch von demjenigen gedacht werden, dessen Seele ganz frei geworden ist vom Gehirn. Einem solchen konnte man ihn beschreiben. Deshalb kann er hier nur erwahnt werden. Wie er durchlebt wird, dazu gibt der christliche okkulte Lehrer die Anleitung. Wenn der Mensch diese siebente Stufe durchlebt hat, dann ist das Christentum ein innerliches Erlebnis seiner Seele geworden. Er ist dann ganz vereinigt mit dem Christus Jesus; der Christus Jesus ist in ihm. VIERZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 4. September 1906 Wir haben gestern die verschiedenen Gebiete charakterisiert, durch die der Schuler der orientalischen und der christlichen Schulung zu hoheren Erkenntnissen gelangt; nun will ich Ihnen heute in ahn- licher Weise die Stufen beschreiben, durch welche die rosenkreuzeri- sche Schulung aufsteigt. Man darf sich nicht vorstellen, dafi diese Rosenkreuzer-Schulung den beiden anderen widerspricht. Sie besteht ungefahr seit dem 14. Jahrhundert, und zwar mufke sie damals eingefuhrt werden, weil die Menschheit noch eine andere Form der Schulung brauchte. In den Kreisen der Eingeweihten sah man voraus, dal? Menschen kom- men wiirden, die durch das sich allmahlich entwickelnde Wissen im Glauben beirrt werden wiirden. Deshalb muike eine Form geschaf- fen werden fiir diejenigen, die in den Zwiespalt von Glauben und Wissen geraten. Im Mittelalter waren die grofiten Gelehrten auch zugleich die glaubigsten und frommsten Menschen; aber auch noch lange Zeit spater war fiir die in der Naturwissenschaft Fortgeschrit- tenen durchaus kein Widerspruch denkbar zwischen Glauben und Wissen. Man sagt, durch das Kopernikanische System sei der Glaube erschuttert worden, aber durchaus unberechtigterweise, hatte doch Kopernikus sein Buch dem Papst gewidmet! Erst in der allerletzten Zeit ist dieser Zwiespalt nach und nach gekommen. Das sahen die Meister der Weisheit voraus, und daher mulke fiir diejenigen, die durch die Wissenschaft vom Glauben abgebracht worden waren, ein neuer Weg gefunden werden. Fiir diejenigen Menschen, die sich viel mit der Wissenschaft befassen, ist es notig, diesen Rosenkreuzer- Weg zu gehen, um ein Eingeweihter zu werden, denn die Rosenkreu- zer-Methode zeigt, daft das hochste Wissen des Weltlichen mit dem hochsten Wissen der ubersinnlichen geistigen Wahrheiten durchaus zusammen bestehen kann; und gerade durch die Rosenkreuzer-Me- thode kann derjenige, der sonst durch eine scheinbare Wissenschaft vom christlichen Glauben abgefallen ware, diesen erst recht erken- nen. Jeder kann durch diese Methode die Wahrheit des Christen- tums erst recht und mit tieferem Verstandnis verstehen. Die Wahr- heit ist eine einzige, doch kann man zu ihr auf verschiedenen Wegen gelangen, geradeso wie die verschiedenen Wege am Fufie des Berges auseinandergehen, am Gipfel jedoch alle zusammenlaufen. Das Wesen der Rosenkreuzer-Schulung kann bezeichnet werden mit den Worten: wahre Selbsterkenntnis. Dazu muft man zwei Din- ge unterscheiden, und man mufi sie als Rosenkreuzer-Schiiler nicht blo$ theoretisch unterscheiden, sondern auch praktisch, das heiEt, sie ins praktische Leben einfuhren. Es gibt zwei Arten von Selbster- kenntnis. Die niedere Selbsterkenntnis, die der Rosenkreuzer-Schii- ler Selbstbespiegelung nennt, durch sie soil man das niedere Selbst uberwinden; und die hdhere, durch Selbstentaufierung geborene Selbsterkenntnis. Was ist nun niedere Selbsterkenntnis? Das ist die Erkenntnis un- seres alltaglichen Selbst, dessen, was wir schon sind, was wir in uns tragen, wie man sagt, ein Hineinschauen in das eigene Seelenleben. Man mufi sich aber klarmachen, da£ man dadurch nicht zum hohe- ren Selbst kommen kann, denn wenn der Mensch sich selbst an- schaut, findet er nur, was er ist; aber gerade dariiber soli er ja hinaus- wachsen, um dieses Selbst des gewohnlichen Lebens zu uberwinden. Aber wie? Die meisten Menschen sind iiberzeugt, dafi ihre Eigen- schaften die allerbesten sind, und wer diese nicht auch hat, ist ihnen unsympathisch. Wer iiber diese Meinung hinaus ist, nicht nur in der Theorie, sondern im Gefiihl, der ist schon auf dem Wege zu einer wahren Selbsterkenntnis. Hinaus kommt man iiber diese Selbstbe- spiegelung durch eine besondere Methode, die immer angewandt werden kann, wenn man einmal fiinf Minuten Zeit findet. Man muB> von folgendem Satz ausgehen: Alle Eigenschaften, die du hast, sind einseitig; du mufit erkennen, worin deine Eigenschaften einseitig sind, und mufit sie zu harmonisieren suchen. - Es ist dies ein Satz, der nicht nur in der Theorie, der in der Praxis der geeignetste ist. Wer fleifiig ist, muf$ sich priifen, ob er es nicht an einer falschen Stel- le ist. Flinkheit ist auch einseitig, ich mu!5 sie erganzen durch eine sorgfaltige Bedachtsamkeit. Jede Eigenschaft hat ihren Gegenpol; den mufi man sich aneignen und dann die kontraren Eigenschaften zu harmonisieren suchen, zum Beispiel: Eile mit Weile, flink sein und doch bedachtig, bedachtig sein und doch nicht trage. Dann fangt man an, iiber sich hinauszuarbeiten. Das gehort nicht zur Meditation, das muU man sich daneben erringen. Dieses Harmonisieren besteht namentlich im Aufmerken auf kleine Ziige. Wer zum Beispiel die Eigenschaft hat, andere nicht aus- reden zu lassen, der mufl sorgfaltig darauf achten und einmal sechs Wochen sich vornehmen: Jetzt schweigst du iiberhaupt dem andern gegeniiber, so lange es moglich ist. - Dann gewohne man sich, nicht zu laut und nicht zu leise zu sprechen. Solche Dinge, die der Mensch gewohnlich gar nicht bedenkt, gehoren zu dieser intimen Selbstent- wickehmg des Innern, und auf je unbedeutendere Eigenschaften man eingeht, desto besser ist es. Wenn man es gar dazu bringt, sich nicht nur bestimmte moralische, intellektuelle oder Gefiihlseigen- schaften anzueignen, sondern irgendeine aufiere Gewohnheit abzu- gewohnen, so ist das insbesondere wirksam. Es handelt sich weniger um eine Erforschung des Inneren im gewohnlichen Sinne als viel- mehr um eine Vervollkommnung der Eigenschaften, die man noch nicht geniigend ausgebildet hat, und um eine Erganzung des Vor- handenen durch eine entgegengesetzte Eigenschaft. Selbsterkenntnis gehort zu den allerschwersten Dingen fur den Menschen, und gera- de diejenigen, die sich am besten zu kennen glauben, tauschen sich am leichtesten. Sie denken zu viel an ihr eigenes Selbst. Das fortwah- rende Hinstarren auf sich selbst und das fortwahrende Hinsagen des Wortes «Ich»: Ich denke, ich glaube, ich halte das fur richtig - das sollte man sich schon in der Redeweise abgewohnen. Vor alien Din- gen mufi man sich die Idee abgewohnen, als wenn auf die eigene Meinung mehr ankame als auf die Meinung anderer Menschen. Nehmen wir zum Beispiel an, es ist einer ein sehr gescheiter Mensch. Wenn er nun seine Gescheitheit in einer Gesellschaft von Menschen anbringt, die auf einer viel tieferen Stufe stehen, so ist sie sehr deplaciert: Er bringt sie ja nur um seinetwillen an. Er sollte aber aus dem Geiste der anderen heraus wirken. Insbesondere Agitatoren verletzen diese Regel sehr leicht. Dazu mufi ferner das kommen, was man im okkulten Sinne Ge- duld nennt. Die meisten, die etwas erreichen wollen, konnen nicht warten, weil sie glauben, sie seien schon reif, alles zu empfangen. Diese Geduld fliefk aus einer strengen Selbsterziehung. Auch das hangt mit der Selbsterkenntnis zusammen. Die hohere Selbsterkenntnis beginnt erst dann, wenn wir anfan- gen zu sagen: In dem, was unser alltagliches Ich ist, liegt gar nicht unser hoheres Selbst. In der ganzen Welt draufien ist es, oben bei den Sternen, bei der Sonne und dem Mond, im Stein, im Tier: Uber- all ist dasselbe Wesen, das in uns ist. - Wenn einer sagt: Ich will mein hoheres Selbst pflegen und mich zuriickziehen, ich will nichts wissen von allem Materiellen, dann verkennt er vollstandig, dafi gerade das Selbst uberall drauften ist und dafi sein eigenes hoheres Selbst nur ein kleiner Teil ist von diesem grofien Selbst draufien. Ge- wisse «geistige» Heilweisen machen diesen Fehler, der sehr verhang- nisvoll werden kann; sie bringen dem Kranken die Vorstellung bei, es gabe nichts Materielles, und so gabe es auch keine Krankheiten. Das beruht auf einer falschen Selbsterkenntnis und ist, wie schon be- merkt, sehr gefahrlich. Wahrend sich eine solche Heilweise mit einem christlichen Namen bezeichnet, ist sie eigentlich antichristlich. Das Christentum ist eine Anschauung, die in allem eine Offenba- rung des Gottlichen sieht. In jedem Materiellen haben wir eine Illu- sion, wenn wir es nicht als einen Ausdruck des Gottlichen ansehen. Verleugnen wir die Aufienwelt, so verleugnen wir das Gottliche; ne- gieren wir die Materie, in der sich Gott offenbart hat, dann negieren wir Gott. Es handelt sich nicht darum, in sich hineinzuschauen, son- dern wir miissen das grofie Selbst zu erkennen suchen, das in uns hineinleuchtet. Das niedere Selbst sagt: Ich stehe da und friere. - Das hohere Selbst dagegen sagt: Ich bin auch die Kalte, denn ich lebe als das einige Selbst in der Kalte und mache mich selbst kalt. - Das nie- dere Selbst sagt: Ich bin da, ich bin im Auge, das die Sonne sieht. - Das hohere Selbst dagegen sagt: Ich bin in der Sonne und sehe im Sonnenstrahl in deine Augen hinein. Wirklich herausgehen aus sich selbst heilk Selbstentaufierung. Daher geht die Rosenkreuzer-Schulung darauf aus, das niedere Selbst herauszubringen aus dem Menschen. In der theosophischen Bewegung ist anfangs der allerschlimmste Fehler gemacht worden dadurch, dafi man sagte: Man mufi absehen vom Aufieren und in sich hineinschauen. - Das ist eine grofie Illusion. Man findet nur sein niederes Selbst, das vierte Prinzip, das niedere Ich, das sich ein- bildet, ein Gottliches zu sein, das aber gar kein Gottliches ist. Man raufi aus sich heraus, um das Gottliche zu erkennen. «Erkenne dich selbst» heifit zugleich «iiberwinde dich selbst». Die Gebiete, um die es sich bei der Rosenkreuzer-Schulung han- delt, sind folgende, und sie miissen Hand in Hand gehen mit der Ausbildung der bereits erwahnten sechs Eigenschaften: Gedanken- kontrolle, Initiative des Handelns, Gelassenheit, Unbefangenheit oder Positivitat, Glaube, inneres Gleichgewicht. Die Schulung selbst besteht in folgendem: 1. Studium. Ohne Studium kommt der jetzige Europaer nicht da- zu, selbst zu erkennen. Er mufi versuchen, erst die Gedanken der ganzen Menschheit in sich hervorzubringen. Er mu£ mit dem Wel- tensystem denken lernen. Er mufi sich sagen: Wenn andere das ge- dacht haben, so mul? es doch menschlich sein, und ich will einmal probieren, wie es sich damit leben lafit. - Man braucht darauf ja nicht wie auf ein Dogma zu schworen, aber man mufi es kennenler- nen durch Studium. Der Schiiler mull die Entwickelung der Sonnen und Planeten, der Erde und der Menschheit kennenlernen. Diese Gedanken, die uns fur das Studium iiberliefert werden, reinigen un- seren Geist. An den strengen Gedankenlinien ranken wir uns hinauf dazu, selbst streng logische Gedanken zu bilden. Dieses Studium rei- nigt auch wiederum unsere Gedanken, so dafi wir streng logisch denken lernen. Wenn wir zum Beispiel ein sehr schweres Buch stu- dieren, so kommt es weniger darauf an, den Inhalt zu begreifen, als darauf, dafi wir auf die Gedankenbahnen des Verfassers eingehen und mitdenken lernen. Deshalb darf man auch kein Buch zu schwer finden; das hiefie blofi, man ist zu bequern zu denken. Die besten Biicher sind gerade diejenigen, die man immer und immer wieder studieren mufi, die man nicht gleich versteht, die man Satz fur Satz durchdenken mufi. Beim Studium kommt es nicht so sehr auf das Was als auf das Wie an. Durch die groften Wahrheiten, wie zum Bei- spiel die Planetengesetze, schaffen wir uns grofie Denklinien an, und das ist das Wesentliche an der Sache. Auch darin steckt viel Egois- mus, wenn jemand sagt: Ich will mehr moralische Lehren haben und keine liber Planetensysteme. - Richtige Weisheit bewirkt ein mora- lisches Leben. 2. Das zweite ist die Imagination, das Erwerben von imaginativer Erkenntnis. Was ist sie und wie erlangt man sie? Auf folgende Weise gelangt man dazu: Man geht durch die Welt und beobachtet sie streng nach dem Goetheschen Grundsatz «Alles Vergangliche ist nur ein Gleichnis». Denn Goethe war ein Rosenkreuzer, und er kann uns in das seelische Leben einfiihren. Jedes Ding mufi in mehr- facher Beziehung ein Gleichnis werden. Nehmen wir an, ich gehe an einer Herbstzeitlose vorbei: Sie ist durch Form und Farbe fur mich ein Sinnbild der Trauer. Eine andere Blume, der Windling, ist ein Sinnbild der Hilfsbediirftigkeit, eine rote Blume, die kiihn ihre Blat- ter in die Hohe richtet, kann mir ein Zeichen sein fur Munterkeit und so weiter. Ein Tier mit bunten Farben kann ein Gleichnis sein fur die Koketterie. Oft liegen in den Namen schon die Gleichnisse ausgedriickt, zum Beispiel Trauerweide, Vergifimeinnicht und so weiter. Je mehr man in dieser Weise nachdenkt, daft die aufieren Dinge Sinnbilder werden fur das Moralische, desto leichter kann man zu dieser imaginativen Erkenntnis aufsteigen. Auch bei den Menschen findet man solche Gleichnisse. So kann man zum Beispiel an dem Gang eines Menschen sein Temperament studieren. Beob- achten Sie nur einmal den schleppenden, langsamen Schritt des Me- lancholikers, den festen, bestimmten Schritt des Cholerikers, den leichten, mehr auf den Fufispitzen ruhenden Schritt des Sanguinikers. Hat man das eine Weile getrieben, dann geht man iiber zu den Ubungen fur die eigentliche Imagination. Man halt sich zum Bei- spiel eine natxirliche Pflanze vor, sieht sie recht an, vertieft sich ganz hinein in sie, holt das Innere seiner Seele heraus und legt es sozusa- gen in die Pflanze hinein, wie es in meinen Aufsatzen «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» beschrieben ist. Das bringt die Imagination herauf. Dadurch gelangt man zum astralen Schauen, Man bemerkt dann tatsachlich nach einiger Zeit, wie eine kleine Flamme aus der Pflanze hervorgeht; es ist die astrale Bedeutung des- sen, was wachst. Ein anderes Beispiel: Man legt ein Samenkorn vor sich hin und sieht dann die ganze Pflanze, wie sie in der Wirklich- keit erst spater sein wird, in Gedanken vor sich erscheinen. Das sind abungen fur die Imagination, auf die die Rosenkreuzer viel Auf- merksamkeit verwenden. 3. Das dritte ist das, was man nennt das Lernen der okkulten Schrift. Es gibt namlich eine okkulte Schrift, durch die man tiefer hineindringen kann in die Dinge. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, damit Sie sehen, was ich eigentlich meine: Mit dem Untergang der alten Atlantis hat eine neue, die altindische Kultur begonnen. Das Zeichen eines solchen Entwickelungsstadiums, wo eine Kulturepo- che aufhort und eine andere anfangt, ist der Wirbel. Solche Wirbel gibt es auch in der Natur, Sternennebel, der Orionnebel zum Bei- spiel und so weiter. Auch da geht eine Welt zugrunde, und eine neue tritt hervor. Beim Aufgang der altindischen Kultur stand die Sonne im Krebs, in der Zeit der persischen Kultur stand die Sonne in den Zwillingen, wahrend der agyptischen Kultur im Stier, wahrend der griechisch-lateinischen Kultur im Widder. Da nun das astronomi- sche Zeichen des Krebses (Jji = 45£T ist, war dieses auch das Zei- chen fur den Aufgang der altindischen Kultur. Ein weiteres Beispiel ist der Buchstabe M. Jeder Buchstabe fiihrt auf einen okkulten Ursprung zuruck. So ist M das Zeichen der Weisheit. Es ist entstanden aus der Bildung der Oberlippe ^SS? und ist zugleich das Symbol fur die MeereswellenC^i^ ; daher wird die Weisheit durch das Wasser symbolisiert. Diese Zeichen sind stets Anklange an sinnvolle Dinge. Zahlreiche solche Zeichen werden in der Rosenkreuzer-Schulung gelehrt. 4. Rhythmisierung des Lebens. Vom chaotischen zum rhythmi- schen Leben iibergehen. Die Kinder haben den Vorteil, in die Schule zu gehen; beim Erwachsenen fehlt leider oft der Stundenplan. Man raufi versuchen, gewisse Stunden des Tages fur die Meditation fest- zulegen. Die Rhythmisierung des Atems spielt keine so grofie Rol- le wie bei den Orientalen, aber sie gehort auch zur Schulung, und der Rosenkreuzer weifi, dafi schon durch das Meditieren die Ver- besserung der Atemluft eintritt. 5. Das Entsprechen von Mikrokosmos und Makrokosmos. Es ist das der Zusammenhang zwischen der grofien und der kleinen Welt oder zwischen dem Menschen und der Welt draufien. Sie wissen, dafi der Mensch allmahlich entstanden ist, seine einzelnen Wesens- glieder haben sich im Laufe der Evolution gebildet. Auf der alten Sonne hat der Mensch noch keinen Astralleib gehabt. Deshalb konnten gewisse Organe noch nicht entstehen. Ein solches Organ ist zum Beispiel die Leber. Bei einem Wesen, das nur einen Ather- leib hat, gibt es keine Leber, auch nicht in der Anlage. Zwar ist die Leber nicht ohne den Atherkorper moglich, sie wird aber erst vom Astralleib geschaffen. Ebenso kann niemals ein Wesen warmes Blut haben, das nicht zu der Zeit entstanden ist, wo sich das Ich ausbildete. Zwar haben die hoheren Tiere auch warmes Blut, aber diese haben sich vom Menschen abgespalten, als er das Ich ausbildete. So gehort jedes Organ des menschlichen Leibes, auch das kleinste, zu einem seiner Wesensglieder. Die Leber entspricht dem Astralleib, das Blut dem Ich. Und wenn der Mensch nun seine Aufmerksamkeit objektiv auf sich selbst richtet, wie auf eine Sache, wenn er sich zum Beispiel auf den Punkt an der Nasenwurzel konzentriert und damit ein be- stimmtes Wort verbindet, das der okkulte Lehrer ihm gibt, so wird er zu dem, was diesem Punkte entspricht, hingefuhrt, und er lernt es kennen. So wird der Mensch, der sich auf diesen Punkt unter bestimmter Anleitung konzentriert, die Natur des Ich kennenlernen. Eine andere, sehr viel spatere Ubung richtet sich auf das Innere des Auges; dadurch lernt man die innere Natur des Lichtes und der Sonne kennen. Die Natur des Astralen lernt man dadurch kennen, dafi man sich mit bestimmten Worten auf die Leber konzentriert. Das ist die richtige Selbstentwickelung, wenn man durch jedes Organ, auf das man seine Aufmerksamkeit richtet, aus sich heraus- gefuhrt wird. Diese Methode ist besonders in neuerer Zeit wirksam geworden, weil die Menschheit so materiell geworden ist. So kommt man durch das Materielle zum Verursacher des Materiellen, zu den schopferischen Kraften, die diese Organe gebildet haben. 6. Das Verweilen oder Sichversenken in den Makrokosmos. Das ist dasselbe, was als Dhyanam beschrieben wurde, die geistige Kontemplation. Sie geschieht folgendermaften: Man versenkt sich in das Organ der Kontemplation, zum Beispiel in das Innere des Auges. Wenn man sich darauf eine Weile konzentriert hat, lafit man die Vorstellung des aufieren Organs fallen, so da£ man nur noch an das denkt, worauf das Auge hingewiesen hat: auf das Licht. Dadurch kommt man zum Schopfer des Organs und hinaus in den Makro- kosmos. Dann fuhlt man, wie der Korper immer grower wird, so grojK wie die ganze Erde, ja, er wachst sogar iiber die Erde hinaus, und alle Dinge sind in ihm. Der Mensch lebt dann in alien Dingen darinnen. 7. Der siebente Zustand entspricht dem orientalischen Samadhi; man nennt ihn in der Rosenkreuzer-Schulung Gottseligkeit. Man lalk die letzte Vorstellung fallen, aber man behalt die Kraft des Denkens. Der Inhalt des Denkens hort auf, aber die Tatigkeit des Denkens bleibt. Dadurch ruht man in der gottlich-geistigen Welt. Diese Stufen der Rosenkreuzer-Schulung sind mehr innere Stu- fen und erfordern eine subtile Pflege des hoheren Seelenlebens. In unserem materiellen Zeitalter ist die weitverbreitete Oberflachlich- keit ein starkes Hindernis fur die notige Verinnerlichung des gesam- ten Seelenlebens; sie mufi iiberwunden werden. Diese Schulung ist auf den Europaer zugeschnitten, sie erfordert eine gewisse seelische Energie, sie ist aber nicht schwer. Jeder kann sie ausfuhren, der nur ernstlich will. Doch gilt auch hier der Goethesche Satz: «Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer. » Meine lieben Freunde! So sind wir nun auf die verschiedenen Methoden der Schulung eingegangen; und nun will ich damit die Vortrage schlieften, dafi ich Ihnen noch einen Einblick gebe in den Zusammenhang zwischen dem Menschen und der ganzen Erde, da- mit Sie sehen, wie der Mensch zusammenhangt mit alle dem, was sonst auf der Erde vor sich geht. Ich habe Ihnen die Entwickelung des Menschen geschildert, wie er ein immer hoheres Wesen werden kann. Die Menschheit als Gan- zes wird ja alles das im Verlaufe der Entwickelung erreichen, was jeder einzelne durch eine okkulte Schulung fur sich erreichen kann. Was geht nun mit der Erde vor, wahrend sich so Mensch und Mensch- heit entwickeln? Denn fur den Okkultisten ist die Erde nicht dasjeni- ge, was sie fur den gewohnlichen Geologen oder Naturforscher ist, der darin gleichsam nur einen grofien leblosen Ball sieht, der innen nicht viel anders ausschaut als aufien, hochstens daft die Stoffe im Innern fliissig sind. Es ist ziemlich unverstandlich, wie dieser tote Ball allerlei Wesen hervorbringen soli. Wir wissen, dafi unsere Erde ganz bestimmte Erscheinungen zeigt, die in das Schicksal vieler Wesen tief hineinspielen; doch das wird von der heutigen Naturwissenschaft als aufier Zusammenhang mit diesem Schicksal stehend betrachtet. So wird zum Beispiel durch Erdbeben und Vulkanausbruche in das Schicksal von Hunderten und Tausenden eingegriffen. Hat des Menschen Wille darauf einen Einflufi oder ist es Zufall? Gibt es tote Gesetze, die blind wiiten, oder ist ein Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und dem Willen des Menschen? Wie steht es mit dem Menschen, der bei einem Erdbeben zugrunde geht? Was sagt der Okkultist iiber das Innere der Erde? Die Geheimwissenschaft aller Zeiten sagt iiber das Innere der Er- de das Folgende: Wir haben uns die Erde zu denken bestehend aus einer Reihe von Schichten, die aber nicht genau voneinander abge- grenzt sind wie bei einer Zwiebel, sondern sanft ineinander iiberge- hen. Die oberste Schicht, die mineralische Masse, verhalt sich zum Innern wie die Schale zum ganzen Ei. Diese oberste Schicht nennt man die mineralische Erde. Unterhalb derselben zeigt sich etwas, was sich mit keiner Substanz der Erde vergleichen lafit, man nennt es die flussige Erde. Es ist aber nicht eigentlich eine Fliissigkeit ge- meint, denn unsere Flussigkeiten sind ja auch mineralisch; diese Schicht hat besondere Eigenschaften. Diese Substanz beginnt nam- lich hier geistige Eigenschaften zu haben, darin bestehend, dafi sie, als Substanz mit etwas Lebendem zusammengebracht, dieses Leben sofort heraustreiben und vernichten wiirde. Der Okkultist kann diese Schicht durch eine reine Konzentrationsarbeit unter- suchen. 3. Die Luft-Erde: Das ist eine die Empfindung vernichtende Sub- stanz; wird sie zum Beispiel mit einem Schmerz zusammengebracht, so verwandelt sie ihn in Lust, und umgekehrt. Es wird sozusagen die Empfindung in der Art, wie sie besteht, ausgeloscht, so wie die zweite Schicht das Leben ausloscht. 4. Die Wasser- oder Form-Erde: Diese Schicht besteht aus Kraf- ten, die aus jedem Ding materiell das machen, was im Devachan gei- stig geschieht. Dort haben wir die Negativbilder zu den physischen Dingen. Hier wiirde zum Beispiel ein Wiirfel vernichtet werden, sein Negativ aber entstehen. Die Form wird sozusagen in das Ge- genteil verwandelt, alle Eigenschaften begeben sich in die Um- gebung. Der Raum selbst, den der Wiirfel einnahm, ist leer. 5. Die Frucht-Erde: Diese Substanz ist voll von strotzender Wachstumsenergie. Jedes Teilchen derselben wachst sofort weiter wie ein Schwamm, wird immer grofier und kann nur zusammenge- halten werden von den oberen Schichten. Sie dient den Formen der vorhergehenden Schicht als dahinterstehendes Leben. 6. Die Feuer-Erde: Diese Substanz hat als solche Empfindung und Wille. Sie empfindet Schmerz; sie wiirde schreien, wenn sie getreten wiirde. Sie besteht sozusagen ganz und gar aus Leidenschaften. 7. Der Erdenspiegel, Erdreflektor: Diese Schicht hat ihren Na- men daher, dafi ihre Substanz, wenn man sich darauf konzentriert, alle Eigenschaften der Erde ins Gegenteil verwandelt. Wenn man al- les Dariiberliegende nicht sehen will, sondern direkt im Geist auf diese Schicht heruntersieht und sich dann zum Beispiel etwas Grii- nes vorlegt, so erscheint das Griine rot; jede Farbe erscheint in ihrer Komplementarfarbe, Es entsteht eine polarische Spiegelung, eine Widerspiegelung ins Gegenteil. Das Traurige wiirde von dieser Substanz in Freude verwandelt. 8. Der Zersplitterer: Konzentriert man sich mit entwickelter ok- kulter Kraft darauf, so zeigt sich einem etwas ganz Merkwiirdiges. Es erscheint dort zum Beispiel eine Pflanze zahllos vervielfaltigt, ebenso alles andere. Aber das Wesentliche ist, dafi diese Schicht auch die moralischen Eigenschaften zersplittert. Sie ist schuld durch die Kraft, die sie auf die Oberflache der Erde ausstrahlt, dafi es iiber- haupt auf der Erde Streit und Disharmonie gibt. Die Menschen miis- sen zusammenwirken in Harmonie, urn die zersplitternde Kraft die- ser Schicht zu iiberwinden. Dazu wurde diese Kraft in die Erde hin- eingelegt, damit die Menschen die Harmonie selbst entwickeln kon- nen. Alles Bose wird substantiell hier vorbereitet und organisiert. Streitsiichtige Menschen sind so organisiert, dafi diese Schicht einen besonderen Einflufi auf sie hat. Alle, die aus dem Okkultismus her- aus geschrieben haben, wufiten das. Dante beschreibt diese Schicht in seiner «G6ttlichen Kom6die» als Kains-Schlucht. Der Streit zwi- schen den beiden Briidern Kain und Abel kommt von daher. Diese Schicht hat substantiell das Bose in die Welt gebracht. 9. Der Erdkern: Das ist substantiell dasjenige, durch dessen Ein- flufi auf der Welt schwarze Magie entsteht. Von hier geht die Kraft des geistig Bosen aus. Aus dem Obigen konnen wir entnehmen, dafi der Mensch einen Bezug hat zu all diesen Schichten, denn sie strahlen fortwahrend ih- re Kraft aus. Die Menschen stehen unter dem Einflufi dieser Schich- ten und miissen fortwahrend die Krafte derselben iiberwinden. Wenn einmal die Menschen auf der Erde selbst Leben ausstrahlen werden, wenn sie Lebenforderndes ausatmen werden, dann iiber- winden sie die Feuer-Erde. Wenn sie den Schmerz geistig iiberwin- den durch Gelassenheit, dann iiberwinden sie die Luft-Erde, und so weiter. Wenn die Eintracht siegt, wird der Zersplitterer besiegt. Wenn die weifSe Magie siegt, gibt es kein Boses mehr in der Welt. So bedeutet also die Evolution des Menschen eine Umgestaltung des Erdinnern. Im Anfang war der Erdkorper so, dafi er alles hemmte, was sich entwickelte. Zuletzt wird die ganze Erde, durch die Kraft der Menschheit umgewandelt, eine vergeistigte Erde sein. Der Mensch teilt so sein Wesen der Erde mit. Nun kann der Fall eintreten, dafi die substantielle Leidenschaft der Feuer-Erde rebellisch wird. Durch die Leidenschaften der Men- schen angeregt, dringt sie durch die Frucht-Erde hindurch, zwangt sich dann durch die Kanale in die oberen Schichten und flielk sogar in die feste Erde hinein, erschiittert diese und bewirkt ein Erdbeben. Stolk diese Leidenschaft der Feuerschicht innere Erdensubstanz aus, dann entsteht ein Vulkan. Das hat sehr viel zu tun mit dem Men- schen. In der lemurischen Rasse war die obere Schicht noch sehr weich, und die Feuerschicht lag noch weit oben. Nun besteht eine Verwandtschaft zwischen der menschlichen Leidenschaft und der Leidenschaftssubstanz dieser Schicht. Wenn der Mensch also sehr bose ist, so verstarkt er diese Leidenschaft. Das geschah am Ende der lemurischen Zeit. Da machte der Lemurier durch seine Leidenschaft die Feuer-Erde rebellischer und richtete den ganzen lemurischen Kontinent auf diese Weise zugrunde. Nirgendwo anders kann er die wahre Ursache zu diesem Untergang finden als in dem, was er selbst aus der Erde heraufgezogen hat. Heute sind die Schichten dichter und fester geworden, aber noch immer stehen die menschlichen Leidenschaften mit der Leidenschaftsschicht der inneren Erde im Zusammenhang; immer noch bewirkt eine Ansammlung boser Leidenschaften und Krafte Erdbeben und Vulkanausbriiche. Wie der Mensch mit seinem Schicksal und Willen zusammen- hangt mit dem, was da geschieht, das konnen wir an zwei Beispielen, die wirklich okkult untersucht worden sind, ersehen. Man hat nam- lich gefunden, dafi Menschen, die bei einem Erdbeben zugrunde gin- gen, in der nachsten Inkarnation spirituelle, geistglaubige Menschen geworden sind. Sie waren so weit gewesen, daft es nur noch dieses einen Schlages bedurfte, um ihnen die Verganglichkeit des Irdischen zu zeigen. Das wirkte im Devachan so sehr nach, dal? sie als Frucht fur das nachste Leben lernten, dafi das Materielle das Hinfallige, der Geist aber das Uberwindende ist. Nicht alle haben das eingesehen, doch viele leben heute auf diese Weise als Menschen, die irgend- welchen spirituellen, theosophischen Bewegungen angehoren. Bei dem anderen Beispiel wurden die Menschen untersucht, de- ren Geburt mit einem Erdbeben oder mit einem Vulkanausbruch zusammenfiel. Man fand dabei heraus, daft alle diese Menschen merkwiirdigerweise ganz materialistisch gesinnte Menschen ge- worden sind. Das Erdbeben oder der Vulkanausbruch war nicht die Ursache, sondern es waren die vielen materialistisch gesinn- ten Seelen, die, reif zur Geburt, sich durch ihren astralen Willen in die physische Welt hineinarbeiteten und die Krafte der Feuer- schicht entfesselten, welche dann bei ihrer Geburt die Erde er- schiitterten. So hangt der Wille des Menschen mit dem, was auf der Erde vor- geht, zusammen. Der Mensch verwandelt mit sich zugleich seinen Wohnplatz. Mit seiner eigenen Vergeistigung vergeistigt er die Erde. Er wird dereinst, auf einem nachsten Planeten, diese Erde durch sei- ne eigene Schaffenskraft veredelt haben. In jedem Augenblick, wo wir denken und fiihlen, arbeiten wir mit an dem grofien Gebaude der Erde, Die Fiihrer der Menschheit schauen hinein in solche Zu- sammenhange und suchen der Menschheit solche Krafte zuzufuh- ren, welche im Sinne der Entwickelung wirken. Eine der letzten die- ser Bewegungen ist die theosophische. Sie soli harmonisierend und ausgleichend wirken bis in die tiefsten Untergriinde der menschli- chen Seele hinein. Wer noch immer seine Meinung iiber die Liebe stellt, das Rechthabenwollen iiber den Frieden, der hat die theoso- phische Idee noch nicht ganz begriffen. Die Gesinnung der Liebe mufi bis in die Meinung hinein wirken. Wer in einer okkulten Ent- wickelung begriffen ist, der lernt das naturnotwendig, sonst kommt er nicht weiter. Er verzichtet iiberhaupt auf eine eigene Meinung und will nur ein Werkzeug sein der objektiven Wahrheit, die von den Geistern kommt und die Welt durchstromt als die eine grofie Wahrheit, und je mehr man sich selbst entaufiert und das Sprach- rohr wird fur die eine grofSe Wahrheit und seine eigene Meinung nicht mehr in Betracht zieht, desto mehr ubt man die wahre theoso- phische Gesinnung. Das ist heute aufierordentlich schwer. Aber die theosophische Lehre ist selbst eine Friedensstifterin. Wenn wir zu- sammenkommen, um in der Lehre zu leben, so stiftet sie Frieden. Wenn wir aber hineinbringen, was draufien ist, dann bringt man Zwietracht hinein, und das miilke eigentlich eine Unmoglichkeit sein. So mufi die theosophische Weltanschauung iibergehen in ein Ge- fiihl, in etwas, was ich nennen mochte eine geistige Luft, in der die Theosophie lebt. Sie mussen den Willen haben zum Verstandnis, dann schwebt die Theosophie wie ein einheitlicher Geist iiber den Versammlungen, und dann wirkt sie auch hinaus in die Welt. Notizen aus der FRAGENBEANTWORTUNG Stuttgart, 2. September 1906 Frage iiber die Arbeit des Ich Es gibt eine Arbeit am Astralleib, am Atherleib und am physi- schen Leib. Am Astralleib arbeitet jeder Mensch; alle sittliche Erzie- hung ist Arbeit am Astralleib. Selbst wenn der Mensch mit seiner Einweihung, mit der okkulten Schulung beginnt, hat er noch viel an seinem Astralleib zu arbeiten. Was bei der Einweihung beginnt, ist ein starkeres Arbeiten am Atherleib durch Pflege des asthetischen Genusses und der Religion. Bewufk arbeitet der Eingeweihte am Atherleib. Das Astralbewufitsein ist vierdimensional in einer gewissen Be- ziehung. Um sich eine annahernde Vorstellung davon zu machen, sei folgendes gesagt: Was tot ist, hat die Tendenz, in seinen drei Di- mensionen zu bleiben. Dasjenige, was lebt, geht fortwahrend iiber die drei Dimensionen hinaus. Das Wachsende hat in seinen drei Di- mensionen durch seine Bewegung die vierte dar- innen. Bewegt sich etwas im Kreis und wird der Kreis immer grofier angenommen, so kommt man endlich doch zu einer geraden Linie. Wir wiirden aber mit dieser geraden Linie nicht mehr zu unserem Ausgangspunkt zuriickkom- men, weil unser Raum dreidimensional ist. Auf dem Astralraum, da kommt man dann zuriick, weil der Astralraum von alien Seiten geschlossen ist. Es gibt keine Moglichkeit, dort ins Unendliche zu gehen. Der physische Raum ist fur die vierte Dimen- sion offen. Hohe und Breite sind zwei Dimensionen, die dritte Dimension ist das Herausheben und Hereinbringen in die vierte. Eine andere Geometrie herrscht auf dem Astralraum. Warum sind die Theosophen noch so unvollkommen? Man soil in seinem Urteil nicht das Personliche einfliefien lassen, sondern eine objektive Beurteilung der Dinge vornehmen. liber den Zustand im Devachan. Schmerz und Weh ist aufien im Devachan. Man empfindet dort die eigenen Schmerzen nicht. Sie sehen den Schmerz dort. Sie sehen ihn als Donner, als Blitz, als Farbe. Das ist die Seligkeit. Es sind die Bilder von dem, was von dem anderen hier unten geschieht. Der Friedenszustand im Devachan ist abhangig von dem Leben des Men- schen hier zwischen Geburt und Tod. Harmonie hier bewirkt Frie- de dort. Fortwahrend ist der Mensch in den drei Welten. «Ruhe sanft!» ist nicht so ganz zutreffend. Hat es einen Wert, Seelenmessen lesen zu lassen? Gute Gedanken sind wie Balsam fur die Toten. Nicht egoistische Liebe soli man ihnen senden, nicht trauern, dafi man die Toten selbst nicht mehr hat; das stort den Toten und ist fur ihn wie Bleige- wicht. Die Liebe, die bleibt, die nicht Anspruch macht darauf, den Toten noch hier haben zu wollen, die mitzt dem Toten und ver- mehrt seine Seligkeit. Reue? Reue hat keinen Wert. Gutmachen mufi man; das kurzt das Ka- maloka ab. Uber die Gemeinschaft mit den Lieben im Kamaloka. Diese Gemeinschaft ist bestimmter, klarer im Devachan, denn das Bewufitsein im Kamaloka ist durch das Abtragen personlicher Schuld getriibt. Lotusblumen? Die Lotusblumen sind innerliche Bewegungen, sind im Innern des Menschen. Wie ist es, wenn man mit den Eltern nicht zusammenstimmt? Mit den Eltern nicht zusammenzustimmen ist meist karmische Bestimmung. "Wie sieht der Astralleib aus? Wenn der Astralleib mit seinem physischen Leib zusammen ist, hat er etwa die Eiform. Nach dem Tode ist er ein wunderbar leuch- tendes, bewegliches Gebilde. Je nach seinen Eigenschaften hat er verschiedene Farben, leuchtende Farben. - Diese drei leuchtenden Punkte sind erst weit voneinan- der getrennte Punkte, die in Verbindung stehen und unten die Verbindung offen haben. Die drei Punkte stellen Kraftzentren dar; sie ziehen sich im- mer mehr zusammen und schauen dann aus wie ein kleines Dreieck. 1. Herz, 2. Leber, 3. Gehirn. Bei der Neuinkarnation wirken diese drei Punkte mit. Im Devachan sind es leuchtende Kraftzentren, die von den drei Punkten ausgehen. In der astralischen Welt sind diese drei Punkte ein Dreieck, im Devachan ist ein Sechseck. Im Devachan ist es diese Form, zwei ineinandergeschobene Dreiecke. Glocken sind es. A A Frage nicht notiert. Atome sind eine Spekulation. Darum vermeiden wir es auch, von Atomen zu sprechen, weil es ja nur eine Annahme ist. Man soli nichts denken, was nicht Tatsachen sind; nur schauen, beobachten soil der Mensch. (Es war iiber das «permanente Atom» gefragt wor- den, von dem man damals in Theosophenkreisen sprach.) Kann man in die Zukunft schauen? Es ist moglich, in die Zukunft zu schauen, aber der Okkultist versagt sich dieses, weil es fast nur der hoch Eingeweihte yertragt, die Zukunft zu wissen. Das Schauen des Eingeweihten bestimmt nicht das, was der andere tut; er tut das in der Zukunft ganz aus freiem Willen. Uber Familienbeziehungen. Bei Familien mit starker Familientradition liegt ein ganz be- stimmtes Gesetz vor, wodurch sich das Familienkarma auslebt. Der Ahnherr erhalt die Familie so lange, bis er sich selbst wieder in der nachsten Inkarnation einen neuen Korper aufbauen kann. Am Blute erhalt sich das Kontinuierliche, am Blute hangt der Familienzusam- menhang. Uber die Kunst. Die Kunst ist die Offenbarung geheimer Naturgesetze. Goethe sagt: «Das Schone ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig waren verborgen geblieben.» Die Natur kann ihre Absichten nur bis zu einem gewissen Grade ausfiih- ren; der Mensch kann sie zum Ausdruck bringen, aber der Kunstler mufi Blut und Leben weglassen. Was geschieht mit der Menschenarbeit? Was der Mensch einmal der Korperwelt eingepragt hat, das bleibt bestehen in der Idee. Was er der Materie eingepflanzt hat, bleibt be- stehen. Was die Menschen einstmals geformt haben, wird spater auf Erden wachsen. Die Wolken werden spater Gemalde sein, und ein Gebilde wie der Kolner Dom wird spater wachsen. Uber die Gruppenseelen. Die Gruppenseelen werden spater, viel spater dieselben Erfah- rungen in sich aufnehmen, die heute der Mensch macht. Sie werden sich spater einen eigenen Leib aufbauen. Sie werden ein einzelnes In- dividuum werden und werden dann eine Individualseele haben. Aus Tieren werden niemals Menschen werden, aber aus den Gruppen- seelen werden Menschen werden; zwar ganz andere Menschen als wir. Man kann die Menschheitsstufe in der verschiedensten Weise durchmachen: auf der Saturnstufe, der Sonnenstufe, der Monden- stufe, der Erdenstufe und so weiter. Wie stellen Sie sich zum Vaterunser? Das christliche Urgebet lautet: Herr, lafi diesen Kelch an mir voriibergehen, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. - Man sollte nicht egoistisch beten. Das Gebet sollte sein eine Er- hebung in die geistige Welt, ein Quell der Kraft und der Starkung. Uber die Ehe. Die Ehe ist ein Dualismus. Alles in der Welt sucht unsere Zeit zu Unrecht auf das Sexuelle zuriickzufuhren. In das Gebiet der Ehe spielt ein grower Weltengegensatz hinein: Der Mann hat einen weib- lichen Atherleib und die Frau einen mannlichen Atherleib. Der Geist, das Seelische beim Mann ist mehr weiblich, und umgekehrt. Unsere Seele strebt zu dem Hochsten. Der Mann wird daher dieses Hochste vergleichen mit dem Weiblichen, weil seine Seele weiblich ist. Das Aufiere, der Leib, wird nur das auftere Symbol, ist nur ein Gleichnis. «Alles Vergangliche ist nur ein Gleichnis.» «Das Ewig- Weibliche zieht uns hinan.» Uber den Ich-Leib. Der Ich-Leib zeigt sich dem Hellseher als eine blaue Hohlkugel zwischen den Augen, hinter der Stirn. Wenn der Mensch anfangt, daran zu arbeiten, so gehen Strahlen von diesem Punkte aus. Uber das Wesen des Kometen. Der Komet ist eine Ansammlung von Kama, Wunschmaterie, ohne die entsprechende Geistmaterie. Der Komet bringt es nur bis zum Astralkorper. Die Sichtbarkeit des Kometen entsteht durch die starke Reibung der Athermaterie, durch die der Astralkorper durch- gegangen ist. Uber das Sehen der Aura. Das Wahrnehmen der Aura ist nur eine Frage des Sehens. Wie entstand Gold? Da haben Sie zuerst die Athermasse. Feuer Feuerather Luft Lichtather Wasser Chemischer Ather Erde Lebensather Kein Leben kann entstehen ohne den Lebensather, der den Korper ausfullt. Jeder Ather kann abgekiihlt und dadurch fest werden. Gold rann friiher in Kliiften und noch friiher war es gasformig, war Feuer- ather, Lichtather. Die Strahlen, die heute in der Sonne zu uns kom- men, waren friiher Athermaterie. Alles Gold war damals Sonnen- ather, Lichtather. Gold ist verdichteter Sonnenather, verdichtetes Sonnenlicht, Silber ist verdichtetes Mondenlicht. Welche Wesenheiten bewohnen den Mond? Der Mond ist mit solchen Wesenheiten bevolkert, die auf fruherer Stufe der Entwickelung stehengeblieben, die sitzengeblieben sind: luziferische Wesenheiten. Auf dem alten Monde gab es solche Wesen- heiten, die so weit ins Bose heruntergefallen waren, dafi sie die Ent- wickelung nicht weiter mitmachen konnten. Diese verankerten sich auf dem Monde. Im abnehmenden Monde zeigen sich diese bosarti- gen Wesenheiten besonders. Beim zunehmenden Monde sind sie weniger schadlich. Greuliche Wesenheiten bewohnen den Mond, aber auch giinstige Wesenheiten, auf Wachstum und Geburt wirkende Wesenheiten. Uber das Buch der Offenbarung. Dieses Buch mit den sieben Siegeln in der Offenbarung des Johannes schreibt der Mensch selbst zunachst. Er evolviert und in- volviert es. Das zuerst Hineingeschriebene ist das, was die sieben Unterrassen sind. Jede Unterrasse hat ein Blatt hineingeschrieben und versiegelt, und in der nachsten Unterrasse wird es entsiegelt. Uber den Unterschied zwischen Verbrennen und Begraben. Der Unterschied besteht hauptsachlich fur den Atherleib. Fur den physischen Leib befordert dann das Verbrennen eine regelma- fiige Auflosung in den Weltenraum. «Verwesen» heilk: zu seinem Wesen zuriickgehen. Uber die Nachstenliebe, Die Nachstenliebe ist ganz selbstverstandlich; ich mufi sie selbst tun. Uber das Leben Jesu. Das Leben Jesu ist zugleich Symbol und Tatsache. Den Beweis fur das Leben Jesu kann nur die Geisteswissenschaft geben. Histori- sche Beweise finden sich nicht, weil Christus als hoher Eingeweihter denen, die die damalige Geschichte schrieben, nicht bekannt war. Uber das innere Wort. Das innere Wort entwickelt sich, nachdem der Mensch bereits astral schauen gelernt hat. Dann kommt er in den Devachanzustand, da hort er die Weltengeheimnisse tonen, tonen in sich, und da hort er dann den Namen, den jedes Ding hat. Auch dem Eingeweihten wird spater dieser sein eigener Name gesagt, und diesen zu meditie- ren ist von ganz besonderer Wirksamkeit. Das ist dann das innere Wort. Er wird dadurch erweckt, und dieses innere Wort ist dann der sichere Fiihrer fur die spatere Entwickelung. Notizen aus der FRAGENBEANTWORTUNG Stuttgart, 4. September 1906 In friiherer Zeit war der Atherleib des Menschen noch aufterhalb seines physischen Leibes, ebenso natiirlich das Ich-Bewulksein. Die Seele arbeitete von aufien am physischen Leibe. Ebenso ist es noch mit dem Atherleib des heutigen Pferdes. Woher kommen die Namen der Tierkreissternbilder? Das gesamte Tierreich war einstmals im Menschen darinnen, das heifk der Mensch stand auf einer Stufe zwischen dem heutigen Tier- reich und Menschenreich. Um sich weiter entwickeln zu konnen, mufite er die Teile aus sich ausscheiden, die seine Entwickelung nicht mitmachen konnten. Er schied damals das aus, was dann heute unser Tierreich bildet. Urspriinglich also waren die Tiere weit weni- ger vom Menschen unterschieden als jetzt. Sie degenerierten dann allmahlich. Nun ging das Aus- scheiden des Tierreiches aber nicht plotzlich vor sich, sondern ganz allmahlich. Erst die Fische, T"